Ich spüre was, das du nicht spürst

Moderne Prothesen sind voller leistungsfähiger Sensoren und Mikroprozessoren. Sie erlauben es, künstliche Extremitäten wie die natürlichen zu bewegen. Neue Modelle könnten den Trägern sogar die Fähigkeit zu fühlen zurückgeben.

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Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
Inhaltsverzeichnis

Moderne Prothesen sind voller leistungsfähiger Sensoren und Mikroprozessoren. Sie erlauben es, künstliche Extremitäten wie die natürlichen zu bewegen. Neue Modelle könnten den Trägern sogar die Fähigkeit zu fühlen zurückgeben.

Die Hand ist pechschwarz und sieht aus, als stammte sie vom galaktischen Oberfiesling Darth Vader aus dem Weltraumepos "Krieg der Sterne". Tatsächlich gehört sie aber dem 13-jährigen Schüler Patrick Kane aus London, und der ist von seiner schwarzen Prothese richtig begeistert. Auch viele Gesunde sind von der Kunsthand fasziniert. Patrick drückt es so aus: "Wenn die Leute meine frühere Prothese sahen, sagten sie: 'Oh!' Aber wenn sie die neue sehen, sagen sie: 'Ooooh!'"

Die hautfarbene Hülle, die der Hersteller mitliefert, findet Patrick langweilig. Auch ohne sie sieht die Unterarm-Prothese einer natürlichen Hand enorm ähnlich. Doch das ist nicht alles: Das elektromechanische Greiforgan mit dem modischen Namen i-Limb Pulse kann viele Funktionen seines biologischen Vorbilds mit einer bisher nicht da gewesenen Genauigkeit übernehmen. "Es sind die kleinen Dinge, die wichtig sind", sagt Patrick. "Ich kann jetzt zum Beispiel ein Glas halten, während jemand etwas hineingießt, oder mein Essen selbst klein schneiden, ohne dass mir jemand dabei helfen muss."

Dies sind selbstverständliche Handgriffe für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Technik. Denn die Prothesenbauer müssen dazu ein von der Evolution in Jahrmillionen optimiertes System exakt nachbilden. Jedes Mal, wenn jemand etwa einen Schlüssel ins Schloss steckt, spielt sich zwischen Hand und Hirn ein fein austariertes Wechselspiel aus Sinneseindrücken und Steuerbefehlen ab, das in einer präzise orchestrierten Aktivität der Muskeln mündet. Was Maschinen in dieser Hinsicht bisher zustande gebracht haben, war im Vergleich dazu grobschlächtig. Doch das hat sich geändert.

Seit Patrick im Alter von neun Monaten seine Hand verlor, haben Sensoren und Prozessoren so große Fortschritte gemacht, dass Prothesen nun erstmals tatsächlich auf Augenhöhe mit natürlichen Gliedmaßen agieren. Damals weitete sich bei Patrick eine besonders bösartige Form einer Hirnhautentzündung zu einer Blutvergiftung aus. Die Ärzte konnten zwar sein Leben retten, aber nicht verhindern, dass ein Bein, die gesamte linke Hand und Teile der rechten amputiert werden mussten.

Nun sorgt bei ihm eine Elektronik an der künstlichen Hand für den richtigen Griff. Im Prothesenschaft, der den Armstumpf umhüllt, sind zwei sogenannte Elektromyogramm-Elektroden eingelassen. Sie messen über die Haut tausendmal pro Sekunde elektrische Signale, die entstehen, wenn Patrick bestimmte Unterarm-Muskeln anspannt. Eingebaute Prozessoren filtern unerwünschte Störsignale benachbarter Muskelgruppen heraus, ermitteln daraus Zahl und Stärke der Muskelsignale und übersetzen sie in Steuerbefehle für die Finger und das Handgelenk der Prothese. Patricks i-Limb Pulse, das Flaggschiff des Herstellers Touch Bionics, ist noch mit einer weiteren Raffinesse ausgestattet: Mit ihr lässt sich die Griffstärke nachträglich noch über ein bestimmtes Muskel- signal verändern. Das kann beim Pinzettengriff fürs Schuhe-zubinden ebenso nützlich sein wie beim Tragen einer schweren Tasche.

Dass sich auf diese Weise wirklich eine flüssige und runde Bewegung ergibt, ist einer rasanten Entwicklung der technischen Komponenten zu verdanken. "Da hat sich in den letzten zehn Jahren viel getan", sagt Hildur Einarsdottìr, Produktmanagerin des isländischen Herstellers Össur, der sich auf Beinprothesen spezialisiert hat. "Das Messen und Auswerten der Signale ist viel schneller geworden." Früher wurden Prothesen meist durch mangelnde Rechenleistung ausgebremst. "Außerdem sind die Sensoren viel robuster geworden. Das heißt, die Prothesen können tagtäglich stundenlang im Einsatz sein." Beschleunigungs- oder Drehsensoren seien zudem mittlerweile so winzig, dass sie auf nur wenige Quadratmillimeter kleine Chips passen. Sie lassen sich also auf kleinerem Raum unterbringen, sodass heutige Prothesen nicht mehr klobig und schwer sind, sondern genauso leicht wie ihre natürlichen Pendants. Mitunter seien die Sensoren allerdings immer noch zu empfindlich gegenüber Feuchtigkeit und Staub, räumt Einarsdottìr ein.

Trotz aller eingebauten Prothesen-Intelligenz kommt auf den Träger noch einiges an Arbeit zu, wenn er sein Körperersatzteil in Betrieb nimmt. Die Stärke des Ruhe- und des Aktivitätssignals der Muskeln etwa ist von Mensch zu Mensch verschieden. Deshalb muss jeder Träger seine Prothese erst einmal individuell anpassen. Dabei kann er auch einstellen, welche Signale – etwa das gleichzeitige Anspannen beider Muskeln, das mehrmalige Aktivieren eines Muskels oder eine mehrere Sekunden dauernde Muskelkontraktion – eine bestimmte Bewegung der Prothese auslösen soll. Will Patrick zum Beispiel, dass sich Zeigefinger und Daumen der Prothese zum Pinzettengriff berühren, spannt er beide Armmuskeln in einem bestimmten Muster an. Auch die Greifgeschwindigkeit steuert er über die Kontraktion der Muskeln – bei einem starken Signal schließt sich die Hand schneller, bei einem schwachen langsamer.