Experten sehen Chancen der Online-Demokratie nüchtern

Forscher waren sich in einer Anhörung der Internet-Kommission des Bundestags einig, dass die elektronische Beteiligung an der Politik an alten Problemen krankt. Am ehesten könne noch die Transparenz verbessert werden.

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Forscher waren sich während einer Anhörung der Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" des Bundestags am Montag einig, es sei überzogen gewesen, frühzeitig zu erwarten, durch das Internet könnten politische Prozesse revolutioniert und die Demokratie gestärkt werden. Die elektronische Partizipation kranke an alten Problemen, erklärte der Trierer Politikwissenschaftler Markus Linden. Je anspruchsvoller die Themen, desto unterschiedlicher sei die Beteiligung. Formen der direkten Demokratie förderten Minderheiten, wobei aber die Mitbestimmung prozentual in den sozial schwächeren Bevölkerungsschichten sinke.

Das Internet verstärke höchstens netzpolitische Themen, das sei etwa an den Protesten gegen das Anti-Piraterie-Abkommen ACTA zu sehen, meinte Linden. Regierungen versuchten, Online-Konsultationen und Bürgerdialoge als Werbung in eigener Sache zu missbrauchen. Die größten Chancen der Online-Demokratie lägen im Bereich Transparenz. Linden plädierte dafür, alle relevanten Sitzungen von Bundestagsausschüssen und parlamentarischen Arbeitsgruppen übers Netz zu übertragen.

Der Düsseldorfer Medienwissenschaftler Gerhard Vowe stimmte ein: "Die Hälfte der Bevölkerung macht einen weiten Bogen um jegliche politische Kommunikation." Daran ändere das Netz wenig. Es biete einer nachwachsenden Elite aber ein neues Instrumentarium, vor allem unter Studenten. Mehr als 5 Prozent der Bevölkerung mache diese Gruppe aber nicht aus. Für Vowe hat im Netz nur noch einen Nachrichtenwert, "was weitergeleitet werden kann". Botschaften müssten sich wie ein Virus verbreiten können sowie unterhaltsam, überraschend oder herzbewegend sein. Die digitale politische Meinungsbildung sei aber sehr flüchtig.

Der Münchner Kommunikationswissenschaftler Christian Neuberger sah "große Verheißungen" der E-Demokratie. Auch er räumte aber ein, dass das Internet einige Barrieren für die politische Partizipation bereithalte. Ein höherer Bildungsgrad und ein höherer sozioökonomischer Status sorgten dafür, dass Menschen sich das Netzmedium stärker aneignen, sich besser artikulieren und eine stärkere Resonanz auslösen könnten. Auch die Kernstrukturen der Informationsvermittlung änderten sich kaum: "Die Meinungsführerschaft liegt bei den großen Anbietern." Andererseits passierten gerade an der Peripherie des Netzes die interessanten Dinge.

Schon zu Beginn der Expertenrunde gab der Kommissionsvorsitzende Axel |E. Fischer (CDU) die Parole aus, das Internet stelle die "bewährte parlamentarische Arbeit nicht in Frage". Es füge ihr aber neue Dimensionen hinzu und verändere die "Herstellung von Öffentlichkeit". Dafür bedürfe es an manchen Stellen aber noch überarbeiteter Spielregeln. Fischer betonte, dass die Kommission selbst vor einem Jahr ein "einzigartiges Experiment" gestartet habe, indem es die Beteiligungsplattform Adhocracy eingebunden habe. "Wir sprechen damit zwar kein Massenpublikum an, haben aber viele inhaltlich hochwertige Beiträge erhalten", meinte Fischer.

Daniel Reichert, der Vorsitzende des Vereins Liquid Democracy, der Adhocracy entwickelt, bedauerte, dass kaum einer der Abgeordneten oder Sachverständigen antworte oder mitdiskutiere. Dabei könnten sich die Parlamentarier viel Arbeit ersparen, da sie etwa weniger auf einzelne E-Mails eingehen müssten. Der Bundestag macht Reichert zufolge keine echte Öffentlichkeitsarbeit für die Plattform, für die sich bislang etwas über 2500 Nutzer registriert hätten. 70 Prozent der Teilnehmer einer Umfrage unter den Nutzern hätten moniert, dass die Rückmeldungen nicht zufriedenstellend seien und ihre Beiträge wohl keinen großen Einfluss entfalteten.

Stefan Wehrmeyer, der mit Hilfe der Open Knowledge Foundation die Webseite "Frag den Staat" inittierte, sieht das in der Verwaltung noch weit verbreitete Geheimdenken als Haupthindernis für Online-Beteiligung. Das Bundesjustizministerium habe etwa die deutschen Teilnehmer an ACTA-Verhandlungsrunden anzugeben verweigert, weil das die öffentliche Sicherheit gefährden könne. Zudem gefährde das Urheberrecht Transparenzprojekte, zum Beispiel dürften Bundestagsgutachten nicht ins Netz gestellt werden.

Christoph Kappes, Geschäftsführer der Beratungsfirma Fructus, verwies dagegen auf neue Akteure wie Aggregatoren, Mega-Hubs und andere Hotspots der Meinungsbildung. Diese machten zunächst einmal deutlich, über was die Leute im Netz überhaupt redeten. Andererseits spiegele die Netzgemeinde aber auch Strukturen klassischer Politik wider und gebe sich teils "genauso hermetisch". Wenig Sinn ergebe es, weiterhin zwischen direkter und indirekter Demokratie zu unterscheiden.

Die Frage, wie lange die Kommission noch laufen soll, wurde in der Sitzung ausgeklammert. Dem Vernehmen nach wird von den Fraktionen mehrheitlich ins Auge gefasst, sie um mindestens ein Quartal bis zum Jahresende laufen zu lassen. (anw)