Datenschützer: Vorratsspeicherung bei Telekommunikation führt in den Überwachungsstaat

Der von den Justizministern in Brüssel beschlossene Kompromiss bei der Aufzeichnung der elektronischen Nutzerspuren sei "maßlos", kritisieren Datenschutzbeauftragte; die "Büchse der Pandora" müsse zu bleiben.

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Der von den Innen- und Justizministern in Brüssel erzielte "Minimalkonsens" bei der geplanten Verpflichtung der Telekommunikationsanbieter zur Aufzeichnung der elektronischen Nutzerspuren der 450 Millionen EU-Bürger stößt bei Datenschützern auf erhebliche Widerstände. "Wenn über Monate hinweg minutiös nachvollzogen werden kann, wer wo im Internet gesurft hat, wer wann mit wem per Telefon, Handy oder Email kommuniziert hat, wer wann welche Online-Dienste in Anspruch genommen hat, dann wird die Schwelle von der freiheitlichen Informationsgesellschaft zum digitalen Überwachungsstaat überschritten", empört sich Thilo Weichert, Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD). Der gegenwärtige Vorsitzende der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder wirft den Ministern eine "grundrechtliche Verrohung" vor, weil sie ihr "maßloses" Papier als "Kompromiss" zu verkaufen suchen.

Bei den Überwachungsplänen in Brüssel, die vom EU-Rat und der EU-Kommission mit Nachdruck vorangetrieben werden, geht es prinzipiell um die Speicherung der Verbindungs- und Standortdaten, die bei der Abwicklung von Diensten wie Telefonieren, SMS, E-Mailen, Surfen oder Filesharing anfallen. Mit Hilfe der Datenberge sollen Profile vom Kommunikationsverhalten und von den Bewegungen Verdächtiger erstellt werden. Telefondaten wollte die Kommission laut ihrem Richtlinienentwurf zwölf, Internetdaten sechs Monate aufbewahrt wissen. Gemäß der Einigung im EU-Rat am vergangenen Freitag sollen die Mitgliedsstaaten nun sämtliche gewünschten Informationen inklusive IP-Adressen sechs bis 24 Monate speichern lassen.

Wie der britische Innenminister Charles Clarke betonte, gelten für Länder, die bereits längerfristige Regelungen in Kraft haben oder entsprechende gesetzgeberische Schritte eingeleitet haben, gemäß der Beratungen ferner Ausnahmeregelungen: So wird es etwa in Irland wohl bei einer dreijährigen Speicherpraxis bleiben, während Polen eine 15-jährige Vorhaltungspflicht mit dem Segen aus Brüssel einführen können soll.

Weichert erinnerte die Politiker nun daran, "dass unsere freiheitlichen Verfassungen verbieten, die Menschen anlasslos staatlich bei ihren alltäglichen Verrichtungen zu überwachen und zu kontrollieren." Was als Interessensausgleich tituliert werde, sei das "Nachgeben gegenüber maßlosen Überwachungsforderungen von Sicherheitsbehörden." Vorschläge von Datenschützern, die übermäßig teure und grundrechtszerstörende Vorratsdatenspeicherung zu vermeiden und dennoch den Strafverfolgungsbedürfnissen zu entsprechen, seien nicht ernsthaft erörtert worden. "Mit einem kurzfristigen Einfrieren von Telekommunikationsverbindungsdaten, einem 'Quick freeze', wäre eine gezielte Gewährleistung von Sicherheit möglich, ohne dass die gesamte Bevölkerung wie eine potenzielle Verbrecherbande behandelt wird", betont Weichert. Die Minister seien dagegen dabei, die "Büchse der Pandora" zu öffnen. Diese würde die Menschen, die überwachungsfrei leben wollen, dazu zwingen, Telefon und Internet nicht mehr zu nutzen. Der Datenschützer forderte das EU-Parlament, den Bundestag und die Verfassungsgerichte in Europa dazu auf dafür zu sorgen, "dass diese Büchse verschlossen bleibt."

Auch der Sprecher des Virtuellen Ortsvereins der SPD (VOV), Arne Brand, ruft die EU-Abgeordneten dazu auf, "sich ihrer Verantwortung gegenüber den Bürgern Europas bewusst zu werden und diese offensichtlich unnötige Ausdehnung der Speicherung zu verhindern." Die in weiten Teilen bereits mit den Fraktionsspitzen von Christ- und Sozialdemokraten im EU-Parlament abgestimmte Linie der Minister beachte "insbesondere nicht das auch in Europa verbindliche Verhältnismäßigkeitsprinzip durch die lange Speicherdauer und den geplanten Umfang der zu speichernden Daten."

Hierzulande genüge die Praxis der Telcos, Verbindungsdaten rund 80 Tage für Abrechnungszwecke aufzubewahren, den Anforderungen an die Sicherheit vollauf, erläuterte Brand gegenüber heise online. Die hohe Aufklärungsquote zeige eindeutig, "dass wir keiner weiteren Ausdehnung bedürfen." Die andererseits verursachten hohen Kosten für die Wirtschaft seien nicht nur "eine starke Belastung für die europäische Informationswirtschaft, sondern stellen eine direkte Investition in den Überwachungsstaat dar." Ein entsprechendes Vorstandspapier hat der VOV bereits im Sommer verabschiedt.

Zur Auseinandersetzung um die Vorratsspeicherung sämtlicher Verbindungs- und Standortdaten, die bei der Abwicklung von Diensten wie Telefonieren, E-Mailen, SMS-Versand, Surfen, Chatten oder Filesharing anfallen, siehe siehe den Artikel auf c't aktuell (mit Linkliste zu den wichtigsten Artikeln aus der Berichterstattung auf heise online):

(Stefan Krempl) / (jk)