Schengen II: Eine "panoptische Überwachungsmaschine" für Europa

Die Organisation Statewatch warnt, dass das Schengen-Informationssystem II hinter dem Rücken der Parlamente zu einer Big-Brother-Datenbank ähnlich dem US-VISIT-Programm ausgebaut wird.

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Die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch warnt in einer Analyse (PDF), dass das umstrittene EU-weite Schengen-Informationssystem II hinter dem Rücken der europäischen Parlamente zu einer regelrechten "Big-Brother-Datenbank" ausgebaut wird. "Dieses System wird benutzt werden, um Millionen vom EU-Gebiet auszuschließen, Überwachung und Kontrolle über die verdächtige Bevölkerung auszuüben und um ein biometrisches Register aller Einreisenden in die EU ähnlich dem US-VISIT-Programm zu schaffen", lautet das Fazit der Untersuchung.

Die Vertreter der Zivilgesellschaft sehen mit den neuesten Entwicklungen ihre schon vor sechs Jahren geäußerten Ängste bestätigt, dass das 1995 eingeführte Schengen-Informationssystem (SIS) Schritt für Schritt zu einer gewaltigen "panoptischen Maschine" ausgebaut werde und sich aufgrund seinen Fähigkeiten zur Registrierung und Überwachung von Individuen sowie ganzer Bevölkerungsgruppen zu einem der "repressivsten politischen Instrumente der Moderne" auswachse.

Das aktuelle SIS, dem sich 15 EU-Mitgliedsstaaten angeschlossen haben, platzt bereits aus allen Nähten. 15 Millionen Einträge gab es in dem computergestützten Grenzkontrollsystem Mitte 2003. Neben Vermerken über gestohlene oder verlorene Identitätsdokumente bezogen sich über eine Million der Notizen auf Personen. Die Mehrheit davon betraf mit 780.922 Datensätzen Warnhinweise zu Individuen, denen der Eintritt in das Schengen-Gebiet zu verwehren ist. Dreiviertel davon stammen laut Statewatch aus Italien und Deutschland. Sie sollen sich größtenteils auf abgelehnte Asylanträge beziehen.

Das SIS der nächsten Generation, dem sich nach seiner Fertigstellung 2007 alle 25 Mitgliedsstaaten anschließen wollen, soll von Anfang an deutlich umfangreicher angelegt sein. Statewatch verweist auf die Einfügung zahlreicher neuer Kategorien, die insbesondere biometrische Daten wie ein digitalisiertes Gesichtsbild und (genetische) Fingerabdrücke umfassen. Diese Entwicklung müsse im größeren Kontext der künftigen zwangsweisen biometrischen Erfassung der rund 450 Millionen EU-Bürger im Zuge der Einführung neuer Pässe und Ausweise sowie aller Visa-Antragsteller gesehen werden. Den Bürgerrechtlern zufolge sind sich die EU-Mitglieder bereits einig, dass in die zentrale Biometriedatenbank auch eine ausgefeilte Suchfunktion eingebaut werden soll. Fingerabdrücke Verdächtiger oder Aufnahmen von Tatorten könnten so mit der Datenbank abgeglichen werden. Aus dem gegenwärtigen Verifizierungssystem würde damit ein Fahndungswerkzeug, das auch "spekulative Suchanfragen" unter allen Registrierten erlaube.

Dazu kommen in SIS II, wie von Statewatch bereits ansatzweise erwartet, eine Reihe neuer Alarmhinweise wie vor "gewalttätigen Unruhestiftern" oder "Terrorismusverdächtigen". Neu ist auch, dass Warnsignale miteinander verknüpft werden können. "Familienmitglieder" könnten dort etwa mit "Clan-Mitgliedern" oder "verdächtigen Angehörigen einer kriminellen Vereinigung" "illegalen Einwanderungs-" oder "Terroristennetzwerken" zusammengeführt werden. Hier zeige sich ebenfalls, dass SIS II verstärkt als Fahndungs- und Geheimdienstwerkzeug eingesetzt werden soll. Dafür spreche auch, dass neben Europol und der EU-Staatsanwaltsinstanz Eurojust immer mehr Strafverfolgungsbehörden Zugang zu den massiven Datenbeständen selbst "für andere Zwecke" als ursprünglich vorgesehen erhalten können. Das kommt laut Statewatch einem "ungeheuerlichen Bruch" fundamentaler Datenschutzprinzipien gleich.

Argwöhnisch stimmt die Bürgerrechtler zudem, dass SIS II weitgehend mit dem sich ebenfalls im Aufbau befindlichen Visa-Informationssystem (VIS) zusammenarbeiten soll. Offiziell ist vom EU-Rat zwar zu hören, dass es sich um "zwei unterschiedliche Systeme mit strikt getrennten Daten und Zugang" handeln soll. Tatsächlich weisen laut Statewatch aber Beschreibungen wie "zentralisierte Architektur" und "gemeinsame technische Plattform" mit "Interoperabilität" darauf hin, dass letztlich ein gemeinsames Computersystem aus SIS und VIS entstehen soll. Damit wäre die EU-weite Fingerabdruckdatenbank mit Informationen über mit Haftbefehl gesuchter Krimineller, Verdächtiger und sämtlicher Visa-Einreisender Realität.

Besonders empört ist Statewatch, dass die neue Überwachungsarchitektur bereits von einem gemeinsamen Konsortium entwickelt wird, obwohl weder das EU-Parlament noch nationale Volksvertretungen oder Datenschutzbehörden konsultiert wurden. Der EU-Rat habe die "Erfüllung der Wunschliste der Strafverfolger" vielmehr mit dem Segen der EU-Kommission, die eigentlich zuständig ist und das Budget gibt, in Eigenregie unter dem Aufhänger einer "latenten Entwicklung" vorangetrieben.

Die Einleitung eines Gesetzgebungsprozesses durch die Kommission steht nach wie vor aus. Nicht einmal eine rechtliche Prüfung durch den entsprechenden Dienst des Rates sei durchgeführt worden, beklagt Statewatch. Die Ausrede für den Verstoß gegen jegliche demokratische Spielregeln sei, dass die neuen Funktionalitäten zwar dann "von Anfang an verfügbar" seien in SIS II, aber erst nach der Durchführung "der politischen und rechtlichen Arrangements aktiviert" würden. Damit würden im Rahmen eines abgekarteten, "Furcht erregenden" Spiels Fakten geschaffen, die sich kaum noch rückgängig machen ließen. (Stefan Krempl) / (mw)