re:publica: Große Skepsis gegenüber gesonderter Blogger-Ethik

Der Vorstoß des US-Verlegers Tim O'Reilly, einen Verhaltenskodex speziell für Web-Kommentatoren als Pendant zu Presseregeln zu etablieren und etwa anonyme Kommentare zu ächten, beschäftigte auch die re:publica, wird in der Szene aber vielfach abgelehnt.

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Ein Ehren- und Verhaltenskodex speziell für Blogger als Pendant zu den publizistischen Grundsätzen des Deutschen Presseratss wird von vielen Bloggern und Forschern hierzulande skeptisch gesehen. "Blogs sind groß geworden, weil es keine Regelungen gab", betonte der Journalschreiber Don Dahlmann auf der Konferenz re:publica in Berlin. Wenn in den meist von subjektiven Meinungsäußerungen gekennzeichneten Weblogs nicht bewusst die Prinzipien der klassischen Berichterstattung gebrochen worden wären, hätten diese keinen kreativen Mehrwert entfaltet. Auch für den Konstanzer Informationswissenschaftler Rainer Kuhlen bietet das Netz die Chance, dass sich etwa im Bereich der öffentlichen Begleitung aktueller Ereignisse neue Gepflogenheiten und Normen entwickeln. Es wäre daher kontraproduktiv, Weblogs mit traditionellen Sanktionen überziehen zu wollen.

Seit Tagen kocht in der Blogosphäre der Streit über eine Art Blogiquette hoch, eine Selbstverpflichtung der freien Web-Kommentatoren über die allgemeine Netiquette hinaus. Angestoßen hat die Debatte der kalifornische Verleger Tim O'Reilly, der als Erfinder des Begriffs Web 2.0 und Verfechter der demokratischen Möglichkeiten des Internet gilt. Sein Vorschlag für einen Verhaltenskodex zur Selbstregulierung der Szene mitsamt einem Logo-Programm zur Durchsetzung grundlegender Höflichkeitsregeln stößt auf ein geteiltes Echo.

Gemäß dem Entwurf sollen "inakzeptable" Inhalte und Kommentare, die etwa Persönlichkeits- oder Urheberrechte verletzen, gelöscht werden. Eine Kommentierung von Blogeinträgen will O'Reilly nur noch zulassen, wenn der interessierte Meinungsvertreter zuvor eine gültige E-Mail-Adresse hinterlegt hat. Anonyme Kommentare sollen der Vergangenheit angehören, Blogger die "Verantwortung" für die Eingaben ihrer Leser übernehmen. Weiter schlägt der Verleger eine persönliche Kontaktaufnahme vor dem öffentlichen Austragen von Streitigkeiten vor und das Ignorieren von Trollen. Er plädiert auch für ein aktives Einmischen in Auseinandersetzungen und mehr Zivilcourage von Bloggern. Auslöser für den Vorstoß waren Morddrohungen gegen die US-Programmiererin Kathy Sierra.

Auf dem Podium bei re:publica waren sich alle einig, dass eine solche spezielle Blogger-Ethik in weiten Teilen nach hinten losgehen würde. "Ich bin gerne höflich, aber lass mir das nicht von jemand vorschreiben", hielt es BILDblogger Stefan Niggemeier mit dem US-amerikanischen Medienbeobachter Jeff Jarvis. Um Morddrohungen zu verhindern, brauche es kein Blogger-Korsett. Da würden auch die bestehenden Gesetze greifen. "Wenn jemand dir in deine Kommentare reinscheißen will, wird er immer einen Weg finden", ergänzte Don Dahlmann in der freizügigen Redeart mancher selbsternannter Web-Kommentatoren. "Gatekeeping" sei im Netz nicht gewollt und eine derartige "Form von Zensur" funktioniere dort auch nicht mehr so wie in den alten Medien.

Kuhlen rief die versammelte Blogger-Gemeinde dazu auf, insbesondere beim Urheberrecht bestehende Vorgaben zu brechen und dabei notfalls Abmahnungen in Kauf zu nehmen. Ansagen in der Form, etwa kein geschütztes Bild gleichsam als Zitat in ein eigenes Weblog aufzunehmen, seien obsolet und würden allein noch von Juristen fortgeschrieben, forderte der Betreiber des Portals Nethics zum zivilen Ungehorsam auf. Gleichzeitig räumte er aber ein, dass Mut dazu gehöre, um die für elektronischen Räume angemessenen neuen Urheberrechtsbestimmungen zu entwickeln.

Auch für Don Dahlmann gehört eine gehörige Portion Provokation dazu, um in der Blogosphäre und darüber hinaus Aufmerksamkeit zu erregen und etwas zu bewegen. Zugleich bedauerte er aber, dass "für viele die gute Erziehung mit dem Einstieg ins Internet aufhört". Da brauche man schon ein "dickes Fell", um mit so manchen Kommentaren fertig zu werden, weiß er aus den eigenen Erfahrungen mit einem umstrittenen Experiment eines mehrwöchigen Opel-Tests und dem gesponserten Bloggen darüber.

Zur re:publica 07 siehe auch:

(Stefan Krempl) / (jk)