Bundestag befürwortet verdachtsunabhängige Überwachung der Telekommunikation

Mit fast allen Stimmen der Großen Koalition hat das Parlament nach einer intensiven Debatte einen Antrag zur sechsmonatigen Speicherung von Telefon- und Internetdaten zur Umsetzung einer EU-Richtlinie beschlossen.

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Mit fast allen Stimmen der Großen Koalition hat der Bundestag am heutigen Donnerstag nach einer intensiven Debatte einen Antrag (PDF-Datei) zur sechsmonatigen Speicherung von Telefon- und Internetdaten beschlossen. Die Bundesregierung ist damit aufgefordert, die vom EU-Parlament abgesegnete Richtlinie zur Aufzeichnung der Nutzerspuren "mit Augenmaß" und in den "Mindestanforderungen" umzusetzen. Zuvor muss die Direktive noch vom EU-Rat bestätigt werden, was sich Justiz- und Innenminister für Anfang nächster Woche vorgenommen haben.

Der CDU-Abgeordnete Siegfried Kauder votierte als einziger Koalitionsvertreter gegen den Antrag. Der Bruder des CDU-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder hatte vor der Abstimmung erklärt, dass er bei der heftig umstrittenen Vorratsdatenspeicherung die Regelungskompetenz auf EU-Ebene nicht gegeben sehe. Seine Zweifel bezogen sich insbesondere auf das letztlich von der EU-Kommission gewählte Gesetzgebungsverfahren per Richtlinie. "Wir werden zu Lakaien Brüssels", proklamierte Kauder. "Wir sind aber kein Abnickverein und müssen unsere Rechte wahren".

Formalrechtliche Fragen warf auch Jerzy Montag, rechtspolitischer Sprecher der Grünen, auf. Er erinnerte daran, dass die pauschale Überwachungsmaßnahme zunächst über einen Rahmenbeschluss des Rates erfolgen sollte und man in Brüssel erst "die Pferde gewechselt" habe, nachdem die Mitgliedsstaaten nicht die geforderte Einstimmigkeit erzielen konnten. Sollte die Richtlinie vom Ministerrat bestätigt werden, rief Montag angesichts des "völligen Missbrauchs der entsprechenden europäischen Vorgaben" den Bundestag zur Einreichung einer Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof auf.

Auch in der Sache selbst sparte die Opposition nicht mit scharfer Kritik. Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sprach von einer "maßlosen" Maßnahme, deren Beitrag zur Verbrechensbekämpfung äußerst fraglich sei. Es werde künftig möglich sein, über Monate hinweg minutiös nachzuvollziehen, wer im Internet gesurft und wer mit wem telefoniert hat. Dies stelle einen "Bruch mit den Grundsätzen der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung" dar, zumal die Aufzeichnung unabhängig von Verdachtsmomenten erfolgen solle. Die von der Koalition gewünschte Entschädigungsregelung für die betroffenen Telekommunikationsanbieter kommentierte die FDP-Politikerin mit dem Hinweis, "dass letztlich die Bürger für ihre eigene Überwachung zahlen".

Jan Korte von der Linkspartei beklagte, dass erneut unter dem Vorwand der Terror- und Verbrechensbekämpfung Grundrechte beschnitten würden. Schwarz-Rot sorge dafür, dass die Bürger "nicht mehr vorbehaltsfrei kommunizieren können". Er fühlte sich an den "aufgeblähten Überwachungsapparat" erinnert, "den viele von uns schon erlebt haben". Montag monierte, dass man aus den erfassten Verbindungs- und Standortdaten "Rückschlüsse auf soziales Verhalten, Interessen und auch Inhalte" der Kommunikation ziehen könne. Eine solche "lückenlose Erfassung stößt tief in unser Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrecht", obwohl dieses von der Verfassung geschützt sei. Dieser Geist "des deutschen Datenschutzrechtes" sei bislang auch von "diesem Haus" mitgetragen worden, rief der Grüne seinen Kollegen die bisherige klare Beschlusslage des Bundestags gegen eine verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung ins Gedächtnis zurück.

Redner der Koalition verwiesen auf die Erfordernisse einer effektiven Strafverfolgung und zeichneten ein Bild vom Internet als neuem Verbrechensherd. "Was sich bei der Kriminalität entwickelt hat, ist Lichtjahre von Zeiten des Volkszählungsurteils entfernt", versuchte Peter Danckert von der SPD das von Karlsruhe deklarierte informationelle Selbstbestimmungsrecht zu relativieren. "Wir leben vor Strukturen von weit verzweigten Verbrechen", stieß Daniela Raab (CSU) ins gleiche Horn. Beide versicherten, dass die Strafverfolger nicht bei "Bagatelldelikten" an die Daten herankämen. Der Koalitionsantrag sieht aber vor, dass Sicherheitsbehörden auch bei allen "mittels Telekommunikation begangener" Straftaten in den Datenbergen schürfen dürfen.

Laut dem CDU-Abgeordneten Günter Krings darf der Staat nicht mehr länger zusehen, "wie seine Bürger zu Opfern werden". Wer dies ignoriere, "betreibt Täterschutz". Der Rechtsexperte begrüßt vor allem, dass "Täter" mit der Vorratsdatenspeicherung auch bei der Nutzung einer Flatrate nicht mehr "optimal geschützt" sind. Bisher seien Ermittler bei Surfern mit Pauschalnutzung immer "von den Gepflogenheiten der Provider" beim Aufbewahren der Verbindungsdaten abhängig. Krings ist sich sicher, dass andernfalls "zahlreiche Verbrechen wie rechtsradikale Straftaten bis hin zu internationalem Terrorismus in Deutschland hätten aufgeklärt werden können". Der parlamentarische Justizstaatssekretär Alfred Hartenbach verwies zudem auf eine angeblich "einhellig positive Reaktion" der Verbände auf den Koalitionsantrag, obwohl sich die Providervereinigung eco vor einer Woche noch davon distanziert hatte.

Immer wieder kamen die Befürworter der Maßnahme auf einen noch nicht veröffentlichten Bericht des Bundeskriminalamts (BKA) zu sprechen. Er listet laut Danckert 361 reale Fälle auf, in denen die Vorratsdatenspeicherung bei der Strafverfolgung hätte helfen können. Wie Montag betonte, bezögen sich davon aber nur 0,5 Prozent auf Straftaten des internationalen Terrorismus. Sonst verspreche sich das BKA vor allem bei der Aufklärung von Sexualdelikten viel von der Datenjagd. Als einziger SPD-Abgeordneter kritisierte der Medienpolitiker Jörg Tauss die Vorlage aus Brüssel als "inakzeptablen Anschlag auf die Bürgerrechte in Europa". Gleichwohl stimmte er für den Antrag, da die Richtlinie nun einmal zumindest im Minimum umgesetzt werden müsse.

Zur Auseinandersetzung um die Vorratsspeicherung sämtlicher Verbindungs- und Standortdaten, die bei der Abwicklung von Diensten wie Telefonieren, E-Mailen, SMS-Versand, Surfen, Chatten oder Filesharing anfallen, siehe den Artikel auf c't aktuell (mit Linkliste zu den wichtigsten Artikeln aus der Berichterstattung auf heise online):

(Stefan Krempl) / (anw)