Sachverständige haben erhebliche Bedenken gegen die Vorratsdatenspeicherung

Bei einer Anhörung im Bundestag hat die Mehrzahl der Experten davor gewarnt, vollständige Kommunikations- und Bewegungsprofile ohne Verdacht sechs Monate lang vorzuhalten. Dabei wurden erneut erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit geäußert.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 148 Kommentare lesen
Lesezeit: 8 Min.

Datenschützer sowie Vertreter von Bürgerrechtsorganisationen und aus der Wirtschaft haben bei einer Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestags scharfe Kritik am Vorstoß der Bundesregierung zur sechsmonatigen Vorratspeicherung von Telefon- und Internetdaten geübt. Der schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte Thilo Weichert richtete den "ganz dringenden Appell" an die Abgeordneten, von dem Vorhaben Abstand zu nehmen. Das Bundesverfassungsgericht habe wiederholt klar gemacht, dass die Bevölkerung nicht "ins Blaue hinein" ohne absehbare Erforderlichkeit in Bezug auf jeden einzelnen Datensatz überwacht werden dürfe. Seit 1969 habe Karlsruhe auch das Verbot aufrecht erhalten, Persönlichkeitsprofile zu erstellen. "Je mehr wir im Internet kommunizieren, desto stärker sind Kommunikationsprofile aber eben auch Persönlichkeitsprofile." Weichert ließ so keinen Zweifel daran, dass der Vorstoß nicht verhältnismäßig und viel zu unbestimmt sei sowie zu wenig Beschränkungen der Befugnisse der Sicherheitsbehörden vorsehe.

Laut Patrick Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, der die von einem breiten Bündnis gesellschaftlicher Gruppen unterstützte Demo gegen den "Überwachungswahn" am Samstag in Berlin initiiert hat, genügt der Regierungsentwurf den verfassungsrechtlichen Anforderungen angesichts eines "Dammbruchs" beim Datenschutz ebenfalls nicht. Für den Bürgerrechtsvertreter ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der bereits angerufene Europäische Gerichtshof die Brüsseler Vorgaben zur Protokollierung der elektronischen Nutzerspuren aller 450 Millionen EU-Bürger kassiert.

Zugleich monierte Breyer, dass die deutsche Implementierungsvorlage etwa mit der Erfassung auch von E-Mail-Anbietern oder Logpflichten bei Anonymisierungsdiensten über die Weisung des Bundestags zu einer Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie im Mindestmaß weit hinausgehe. Die Aufklärungsquote im Internet liege schon bei über 80 Prozent im Vergleich zu rund 55 Prozent bei gängigen Verbrechen, sodass die Aufzeichnung des "gesamten Internetverhaltens" der Bürger nicht gerechtfertigt sei. Christoph Fiedler vom Verband der deutschen Zeitschriftenverleger (VDZ) wiederholte seine Ansicht, dass der Presse eine "Trockenlegung" ihrer Quellen drohe und die Schutzvorkehrungen für die Medien bei der TK-Überwachung geringer seien als bei Durchsuchungen und Beschlagnahme vor dem Cicero-Urteil.

"Deutliche verfassungsrechtliche Bedenken" brachte auch Jürgen Grützner, Geschäftsführer des Verbands der Anbieter vom Telekommunikations- und Mehrwertdiensten (VATM), hauptsächlich wegen einer fehlenden Entschädigungsregelung für die betroffenen Firmen vor. Dabei müssten die Provider zum Teil völlig neue Systeme und Software zur Verknüpfung von Verbindungsdaten der jeweiligen Betreiber mit den dahinter stehenden Personen aufbauen, schloss sich der Lobbyist den Einwänden des Verbands der deutschen Internetwirtschaft eco an. Zugleich monierte der Branchenabgesandte, dass sich die Regierung weit von der EU-Zielrichtung der Terrorabwehr entfernt habe. So dürften die Ermittler mit dem Entwurf etwa auch zur Verfolgung von Surfern auf die Datenhalden zugreifen, wenn diese unzulässig Downloads urheberrechtlich geschützter Werke durchgeführt hätten. Endgültig nicht praktikabel sei die Ausweitung der Zugangsberechtigung bis hin zu Ordnungswidrigkeiten.

Auch eine Überregulierung machte Grützner aus. So brächte die Erfassung auch der Handy-Gerätekennung IMEI wenig, da diese leicht verändert werden könne. Völlig überflüssig seien die Speicherauflagen für reine Service-Provider wie debitel, da die begehrten Verbindungs- und Standortdaten so doppelt vorgehalten würden. Straftäter könnten sich ferner der Überwachung entziehen, indem sie die an jeder Straßenecke zu findenden offenen WLAN-Netze missbrauchen würden. Insgesamt werde eine "Bürokratie vom Feinsten" aufgebaut, "die der Strafverfolgung keinerlei zusätzliche Sicherheit gibt". Vielmehr würde das Vertrauen der Kunden in die Telekommunikation massiv unterwandert. Auch im Lichte einer umstrittenen Normierung von Anti-Terror-Befugnissen der US-Sicherheitsbehörden, auf sämtliche gespeicherten TK-Verbindungen von Drittstaaten ohne Richtervorbehalt zuzugreifen, mahnte Grützner zur Datensparsamkeit. Andernfalls werde Missbrauchsmöglichkeiten selbst zur Wirtschaftsspionage Tür und Tor geöffnet.

Rainer Liedtke von E-Plus beklagte eine neue Verpflichtung zur "Echtzeitübermittlung" von Verbindungsdaten. Auch dem Juristen zufolge dürften die enormen gewünschten Informationsbestände für die Verbesserung der Strafverfolgung aber wenig bringen. So sei das Fälschen von IP-Adressen kein sonderlich aufwendiger Prozess, was gar zur Anlage falscher Spuren führen könne. Entsprechende Vorwürfe könne ein damit unschuldig ins Visier der Fahnder geratener Bürger wohl nur schwer entkräften. Die Internetkennungen seien bei Mobilfunkbetreibern zudem häufig wertlos, da aufgrund eines ihnen nur sehr knapp zur Verfügung stehenden Adressraums viel mit Untergruppierungen und "privaten internen" IP-Adressen gearbeitet werde. Dabei würden die Nummern oft im Sekundentakt gewechselt. Insgesamt bestehe aber mit dem steigenden Kommunikationsbedarf der Bevölkerung über elektronische Medien die Möglichkeit, ein nicht mit der Verfassung zu vereinbarendes vollständiges Kommunikations- und Bewegungsprofil jedes Bürgers zu speichern.

Dies bestätigte Michael Ronellenfitsch, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Tübingen. Verbindungsdaten selbst sind für ihn zwar eine "läppische Angelegenheit". Aber es gehe um ein Gesamtbild, das sich mit einer verstärkt kommunikationsgeprägten Selbstartikulation der Menschen, durch die Erfassung der Nutzerspuren aufzeichnen lasse. Die Telekommunikation sei "essenziell für die individuelle Lebensgestaltung" geworden. Der hessische Datenschutzbeauftragte mahnte daher eine sorgfältige Grundrechtsabwägung an. Persönlich erklärte er sich dabei mit einer Vorratsdatenspeicherung zur Gefahrenabwehr von höchstrangigen Rechtsgütern wie dem Schutz vor terroristischen Anschlägen oder zur Verfolgung schwerer Straftaten einverstanden. Generell hielt er in diesem Sinne den Entwurf trotz seiner deutlich weiteren Zugriffsmöglichkeiten für vereinbar mit dem EU-Recht und letztlich verfassungskonform.

Für Ernst Wirth vom Bayerischen Landeskriminalamt enthält das Großprojekt der Regierung aus polizeipraktischer Sicht ebenfalls überwiegend begrüßenswerte Bestimmungen. Die Ermittler würden Verbindungsdaten inzwischen als "elektronische DNA" betrachten und hätten damit bereits Fälle wie den Mord an Rudolf Mooshammer aufgeklärt. Die dafür in der Regel erforderlichen Daten bekäme die Polizei zwar bereits "unverzüglich in hervorragender Form" von den Providern. Dies geschehe aber zumindest bei der Echtzeitauskunft von Standortdaten auf freiwilliger Basis, sodass eine Normierung erforderlich sei.

Weitgehend allein war Jürgen-Peter Graf vom Bundesgerichtshof mit seiner Ansicht, dass die Vorratsdatenspeicherung angesichts momentan oft nicht mehr aufzuklärender Fälle etwa von Betrügereien im Internet unter dem Missbrauch von Accounts bei der Bevölkerung "das Vertrauen in das Internet" eher erhöhen würde. Für den Richter stellt sich die Frage, "inwieweit ich noch mit Recht Straftaten im 'Real Life' verfolgen kann, wenn ich rechtsfreie Räume im Internet schaffe." Dies sei aber der Fall, wenn die IP-Adresse "weg ist". Graf kam zu der ungewöhnlichen Schlussfolgerung, dass damit bei einem politischen Verzicht auf die Datenprotokollierung eigentlich auch ein Warenhausdieb nicht mehr verfolgt werden müsse. Die verdachtslose Vorhaltung von IP-Adressen hielt er für unbedenklich, da gemäß dem Entwurf mit der "neutralen" Kennung keine Inhaltsdaten verknüpft werden dürften. Die meisten anderen Experten hielten dagegen, dass die Zusammenführung der hochsensiblen IP-Adressen mit Nutzerdaten etwa bei Suchmaschinen-Anbietern die Regel sei und sich die Behörden auch auf diese Informationen Zugriff verschaffen könnten.

Jenseits der Anhörung brachte auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar noch einmal seine erheblichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorratsdatenspeicherung vor. Die für eine freiheitliche Gesellschaft unabdingbare unbefangene Kommunikation werde damit erheblich beeinträchtigt. Die Möglichkeit zur anonymen und unbeobachteten Internetnutzung müsse weiterhin gewährleistet bleiben. Äußerst umstritten war am Mittwoch bei einer ersten Anhörung zu dem Gesetzesentwurf zuvor zudem die geplante Neuregelung der TK-Überwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen allgemein.

Zur Auseinandersetzung um die Vorratsspeicherung sämtlicher Verbindungs- und Standortdaten, die etwa beim Telefonieren im Fest- oder Mobilfunknetz und bei der Internet-Nutzung anfallen, siehe den Online-Artikel in "c't Hintergrund" (mit Linkliste zu den wichtigsten Artikeln aus der Berichterstattung auf heise online):

(Stefan Krempl) / (pmz)