Bundesverfassungsgericht will Online-Razzien streng prüfen

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat der Koalition geraten, im Streit um heimliche Online-Durchsuchungen die Entscheidung aus Karlsruhe abzuwarten, während Bundeskanzlerin Merkel weiter Druck macht.

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Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat der großen Koalition geraten, im Dauerstreit um heimliche Online-Durchsuchungen die anstehende Entscheidung aus Karlsruhe über die Lizenz für Netzbespitzelungen des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes abzuwarten. "Man kann sich zwar des Eindrucks nicht erwehren, dass bisweilen wichtige Entscheidungen, die von der Politik getroffen werden sollten, auf das Bundesverfassungsgericht verlagert werde", monierte Papier in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung. Bei der Problematik der Online-Razzien sei der Sachverhalt aber anders. Hier zeigte der Gerichtspräsident Verständnis dafür, dass sich "die Bundespolitik vom Ausgang dieses Verfahrens Hinweise für ihre eigenen diesbezüglichen Pläne erhofft".

In Karlsruhe steht am 10. Oktober die mündliche Verhandlung über die Verfassungsbeschwerde dreier Rechtsanwälte einschließlich Ex-Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP), einer Journalistin und des Landesverbands der Linkspartei gegen das NRW-Verfassungsschutzgesetz an. Mit einem Urteil wird für Anfang kommenden Jahres gerechnet. Die SPD-Bundestagsfraktion will angesichts der zahlreichen offenen technischen und rechtlichen Fragen bei Online-Razzien die Entscheidung abwarten, bevor sie sich eine abschließende Meinung zu den Plänen von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) zum Einsatz des Bundestrojaners bildet. Unionspolitiker warnen dagegen vor unnötigen Verzögerungen. Papier hat nun den Sozialdemokraten Unterstützung für ihre Haltung gegeben.

Der Präsident des Verfassungsgerichts kündigte zugleich eine strenge Prüfung der Zulässigkeit heimlicher Online-Durchsuchungen an: Es geht in dem Verfahren zur Online-Durchsuchung unter anderem darum, welche Grundrechte ­ etwa Unverletzlichkeit der Wohnung, Fernmeldegeheimnis und Persönlichkeitsschutz ­ mit welcher Intensität betroffen sein können." In diesem Zusammenhang spielt laut Papier natürlich auch die Frage eine Rolle, ob und inwieweit der Kernbereich privater Lebensgestaltung tangiert werde. Die Verfassungsrichter hatten 2004 im Urteil über den großen Lauschangriff auf Wohnungen entschieden, dass es die Menschenwürde des Überwachten gebietet, ihm nicht bis in sein Intimleben hinein nachzustellen. Ob diese Schranke auch für private Daten auf heimischen Festplatten bei einem Internet-Spähangriff gelten muss, ist einer der großen Streitpunkte in der politischen Diskussion über Online-Razzien.

Bundeskanzlerin Angela Merkel übt derweil mit immer gleichen Argumenten weiter Druck auf den Koalitionspartner aus, dem Bundeskriminalamt (BKA) möglichst rasch im Rahmen der Novelle des BKA-Gesetzes eine Befugnis für Netzbespitzelungen zu geben. "Es darf in unserer technischen Welt nicht sein, dass sich Terroristen freizügig bewegen dürfen", sagte die CDU-Politikerin am Freitag auf einer Regionalkonferenz ihrer Partei in Stuttgart zum neuen Grundsatzprogramm. Darin warnen die Christdemokraten, dass Datenschutz nicht zum "Täterschutz" werden dürfe. "Die Union wird ganz ruhig an dieser Stelle weiter argumentieren, weil es den rechtsfreien Raum für Terroristen nicht geben darf", betonte die CDU-Vorsitzende. Deutschland sei in den vergangenen Jahren sieben geplanten Anschlägen entgangen. "Das sind Bedrohungen von einer ganz neuen Qualität." Im Fall der verdeckten Online-Durchsuchungen hält Merkel eine ähnliche Ausdauer für notwendig wie bei der langjährigen Debatte über die akustische Wohnraumüberwachung.

Die Stimmung in der Koalition ist auch nach einer Aussprache im Bundestag zu Schäubles umstrittenen Äußerungen über einen nahen Terroranschlag mit einer schmutzigen Bombe überaus angespannt. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfaktion, Wolfgang Bosbach, sprach gegenüber der Westdeutschen Zeitung von einem "nicht mehr unterschreitbaren Tiefpunkt". Die SPD finde es gut, "Opposition in der Regierung zu machen. Das bestätigt alle Vorurteile der Bürger gegenüber der Politik." Der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck warf Unionspolitikern dagegen in der Berliner Zeitung mangelndes Feingefühl und permanente Provokationen vor. Er bemängelte einen falschen Umgang mit den Sorgen der Bürger mit terroristischen Gefahren. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) erteilte sowohl einem Einsatz der Bundeswehr im Inneren als auch Online-Durchsuchungen ohne richterlichen Vorbehalt eine Absage.

Die Diskussion über mögliche Terroranschläge mit nuklearem Material und den Abschuss gekaperter Flugzeuge erscheint den meisten Deutschen derweil erheblich überzogen. In einer Sondierung des Instituts TNS Forschung für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel sagten 60 Prozent der Befragten, die entsprechenden politischen Vorstöße seien "Panikmache". Nur 34 Prozent der Befragten sehen in der Debatte eine "Aufklärung über Gefahren". Schäuble selbst hat nach den empörten Reaktionen des Koalitionspartners SPD und der Opposition seine Warnungen über mögliche atomaren Attentate inzwischen abgeschwächt. Eine entsprechende Interviewpassage vom vorigen Wochenende sei zugespitzter freigegeben worden als sie der Minister gemeint habe, heißt es in seinem Haus.

Vize-Regierungssprecher Thomas Steg sagte am Freitag im Namen der Kanzlerin, es sei alles zu vermeiden, was zur Verunsicherung der Bevölkerung führe. Andererseits müsse auch auf die erhöhte Sicherheitslage reagiert werden. Merkel war am Freitag mit SPD-Chef Kurt Beck und Vize-Kanzler Franz Müntefering (SPD) zusammengetroffen. Sie geht laut Steg davon aus, dass sich die Koalition auf "praxistaugliche, aber auch verfassungsrechtlich saubere" Antworten bei der inneren Sicherheit verständigen wird. (Stefan Krempl) / (jo)