Experten gegen Archivierung von Tweets und Chats

Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs, beäugt die Initiative der Library of Congress zum Aufbewahren der Twitter-Kommunikation skeptisch. Wenn eine staatliche Behörde "alles" festhalte, erinnere dies an Big Brother.

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Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs, beäugt die Initiative der US-amerikanischen Library of Congress zum Aufbewahren der Twitter-Kommunikation skeptisch. Wenn eine staatliche Behörde "alles" festhalte, habe dies einen Big-Brother-Beigeschmack, befand der Archivar am Freitag auf einer Tagung der von Google unterstützten Denkfabrik Collaboratory zur "Nachhaltigkeit in der digitalen Welt" in Berlin. Er sei daher "ganz froh", dass die von ihm geleitete Einrichtung nicht den gesetzlichen Auftrag und auch nicht die Ressourcen dazu habe, Tweets für die Nachwelt aufzubewahren. Das Institut müsse vielmehr überliefern, "wie der Staat verfasst war und wie wesentliche Entscheidungen gefallen sind".

"Wenn alles, was mündlich passiert, lückenlos archiviert werden soll, erhebt sich ein allgemeines Gebrummel", konstatierte auch die Schriftstellerin Kathrin Passig. Chats, SMS, Lehrvideos und Forendiskussionen seien stilistisch trotz ihrer Schriftform sehr nah am Mündlichen und mit den Alltagsgesprächen vergleichbar. Diese seien früher höchstens von der Stasi lückenlos aufgezeichnet worden. Mit Bewunderung und Unbehagen zugleich verwies die Autorin parallel auf neue Techniken für permanente Live-Aufzeichnungen wie Googles Datenbrille Glass, Editoren wie Stypi, die jede Schreibkorrektur über die Replay-Funktion nachvollziehbar machten, oder Cloud-basierte Textverarbeitungsprogramme, die detaillierte Entstehungsversionen abspeicherten.

Generell plädierte Passig für einen gelassenen Umgang mit dem Problem der Nachhaltigkeit und Archivierbarkeit des Digitalen: Mangelhafte materielle Haltbarkeit und Aufbewahrungstechniken seien nicht das Problem. Das Verlorengehen von Inhalten hänge vielmehr mit "nachlassendem Interesse" daran zusammen. Wie beim Froschlaich ließen sich viele Dinge schlicht durch Masse bewahren gemäß dem Motto: "Ein paar werden schon durchkommen."

Insgesamt seien viele und speziell ältere Texte, die bislang nur gedruckt in Bibliotheken verstaubten, durch die vermeintlich so flüchtige Digitalisierung erst wieder zugänglich geworden, führte die Autorin aus. Notfalls rette das Archive Team noch ein paar Gigabyte an Daten wie im Fall der untergegangenen Webgemeinschaft GeoCities. Die größten Chancen auf Erhaltung im Netz habe "alles Offene", während sich das Seltene, Private oder Kopiergeschützte nicht auf seine Fortdauer verlassen könne.

Noch habe sich kein Konsens entwickelt, was in der neuen elektronischen Kommunikationswelt alles konserviert werden solle, ergänzte der Berliner Rechtsanwalt Till Kreutzer. Die neue, sich vor allem in sozialen Netzwerken zeigende Kulturpraxis gehorche der Maxime: "Es wird veröffentlicht." Daher brauche es Wertentscheidungen auf Basis neu definierter Grundbegriffe wie dem des kulturellen Erbes, was tatsächlich erhalten werden müsse.

Auf jeden Fall sollte es nicht länger eine urheberrechtliche Frage sein, "ob man etwas archivieren darf", betonte der Jurist. Das bisherige Rechtsverständnis sei hier oft noch zu stark verhaftet an der Vorstellung von Gegenständen wie gedruckten Büchern, obwohl eigentlich nur die Inhalte und nicht ihre materiellen Manifestationen urheberrechtlich zu schützen seien. Bislang stehe das Copyright so vielfach Nachhaltigkeitsstrategien im Wege. (vza)