Warnung vor politischen Schnellschüssen gegen Online-Sucht

Bei einer Anhörung im Bundestag sahen Experten noch großen Forschungsbedarf rund um Suchtgefährdungen des Internets und setzten vor allem auf Aufklärung von Eltern und Lehrern über die "Medienunkultur".

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 151 Kommentare lesen
Lesezeit: 5 Min.

Bei einer Anhörung im Kultur- und Medienausschuss des Bundestags am heutigen Mittwoch sahen Experten noch großen Forschungsbedarf rund um Suchtgefährdungen des Internets. Vor politischen Schnellschüssen zur Eindämmung von Abhängigkeiten durch Online-Sex, Online-Spiele oder Chats rieten sie ab. "Wir ahnen sehr viel, aber wissen sehr wenig", brachte Ralph Gassmann von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen die Einschätzung der Sachverständigen auf den Punkt.

Herauskristallisiert hat sich Gassmann zufolge eine "Personengruppe im sechs- oder siebenstelligen Bereich, die Probleme mit dem Internet hat". Die einen davon würden sich "problematische Inhalte wie Kinderpornographie" herunterladen, "andere spielen zehn oder 15 Stunden am Tag" mit Folgen bis hin zu Gesundheitsschäden. Doch vor einigen Jahrzehnten sei auch von einer Fernsehsucht die Rede gewesen –­ ein inzwischen vergessenes Phänomen. Dringend erforderlich sei daher eine repräsentative, auf einen Zeithorizont von einem Jahr angelegte Studie unter Leitung eines Expertengremiums.

Es gebe Fälle, auf welche die Beschreibung "Sucht" zutreffe, ergänzte Henning Scheich vom Magdeburger Leibniz-Institut für Neurobiologie. Als Symptom zu nennen sei etwa eine psychische Abhängigkeit, aufgrund welcher "enormes auf die Beine gestellt wird, um an das Suchtmittel heranzukommen". Entzugserscheinungen seien darüber hinaus genauso festgestellt worden wie eine "Steigerung der Dosis" oder der "soziale Rückzug". Wie groß die Gruppe der Betroffenen sei, vermochte Scheich aber nicht zu sagen. Auch er forderte daher psychologische Experimente, um herauszufinden, was an der Interaktion mit dem Online-Medium vor allem bei allgemein labilen Personen eine Abhängigkeit herausfordere.

Sagen konnte Scheich bereits, dass die Online-Sucht –­ wie alle Süchte –­ "etwas mit Belohnungssystemen zu tun hat". Es gehe um soziale Gratifikationen oder die schnelle Befriedigung von Wünschen ähnlich wie bei der Onanie, erläuterte der Professor. Die Suggestion einer "pseudosozialen Interaktion" und die scheinbar keine Verantwortung begründende Anonymität der Online-Handlungen seien es vor allem, die "Herausforderungen für Persönlichkeiten mit Schwächen im sozialen Bereich" darstellen würden. Dazu käme das Heranzüchten von "Entgleisungen" durch eine "Medienunkultur" schon im prägenden Kindesalter. Wenn das menschliche Gehirn früh zur Passivität verurteilt werde, führe das zu "Umverdrahtungen" und erhöhe die Gefahr der Abhängigkeit.

"Das Thema muss unbedingt präziser erfasst werden", plädierte auch Angela Schorr von der Deutschen Gesellschaft für Medienwirkungsforschung für umfassende Untersuchungen. Besorgt stimmte sie vor allem die ansteigenden Zahlen bei Haupt- und Realschülern im Bereich der Sucht nach Online-Spielen mit Raubzügen wie World of Warcraft. Bei diesen entstehe ein enormer sozialer Druck. Für Angehörige handle es sich oft zunächst um ein schwer erkennbares Symptom: "Die Leute sitzen unauffällig mitten in der Familie vor dem Rechner, haben dann am nächsten Morgen aber nur zwei Stunden geschlafen."

Weniger die Spiele- als die Sexsucht muss laut Gabriele Farke vom Verein Hilfe zur Selbsthilfe für Onlinesüchtige stärker beleuchtet werden. Es handle sich noch um ein "Tabu-Thema", obwohl "die Mehrzahl der Onlinesüchtigen" davon betroffen sei. Vor allem Studenten seien darunter, "junge Männer, die noch keine Beziehung hatten", ein völlig falsches Frauenbild bekämen und Gefühle verlernen würden. Die Spielesucht gehe dagegen mit einem "ganz hohen Aggressionspotenzial" einher: "Kinder schlagen ihre Eltern, wenn das Internet abgestellt wird." Hier sei ein "Umdenken in der Gesellschaft" nötig. Bei Jugendlichen empfahl Farke Vorsorgeuntersuchungen, mit denen konkret das Medienverhalten abgefragt werden solle.

Nach Ansicht der Grünen besteht bereits weiterer dringender Handlungsbedarf. Sie haben im Januar einen Antrag zur Bekämpfung der Medienabhängigkeit in den Bundestag eingebracht, der sich für Warnhinweise auf Computerspielen mit Suchtgefahr einsetzt. Spieldauereinblendungen sollen zudem verpflichtend gemacht werden. Im Sinne des Jugendschutzes plädiert die Oppositionspartei auch dafür, für Minderjährige die wöchentliche Spielzeit zu begrenzen. Generell müsse Medienabhängigkeit als eigenständige Suchtform anerkannt werden.

Klaus Wölfling von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Mainz unterstützte den Vorschlag zur Einführung von Warnhinweisen. Viele Hersteller von Computerspielen hätten auch bereits eine "Elternbegrenzung" implementiert, was stärker bekannt gemacht werden sollte. Eine allgemeine Reglementierung der Spielzeit hielt der Experte für Gruppentherapie dagegen für schwierig durchzuführen. "Nicht denkbar in unseren Breitengraden" sei vor allem der Ansatz aus dem asiatischen Raum, Server für Online-Rollenspiele so einzustellen, dass eine Figur nach drei Stunden automatisch an Stärke verliert.

Der Leipziger Medienpädagoge Hartmut Warkus hielt Spiele-Kennzeichen ebenfalls für sinnvoll, "wenn sie auch beachtet werden". Man müsse sich immer klar machen, dass man damit "einer Sache einen Stempel aufdrückt". Die wesentlichste Maßnahme sei die Aufklärung über Suchtpotenziale, wobei der schnellste Weg über Eltern und Lehrer führe. (Stefan Krempl) / (pmz)