Medienhistoriker: ARD schöpft Online-Möglichkeiten nicht aus

Die Sendergruppe müsste viele zeitgeschichtlich relevante Beiträge nicht nach 7 Tagen aus dem Netz nehmen, meint der Forscher Christoph Classen. Das Nachrichtenarchiv depub.org ist für ihn Sinnbild eines gescheiterten Zugangs zum kulturellen Erbe.

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Die ARD muss sich den Vorwurf gefallen lassen, es mit dem umstrittenen "Depublizieren" von Sendungen im Internet nach sieben Tagen zu übertreiben. Die Sendergruppe könnte viel mehr Beiträge mit zeitgeschichtlicher Relevanz entgegen unbegrenzt online lasen, erklärte Christoph Classen vom Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam am Freitag auf der Konferenz "Zugang gestalten" im Jüdischen Museum Berlin. Nach dem von der Politik abgesegneten Telemedienkonzept der Rundfunkanstalt wäre hier "sehr viel mehr möglich".

Dass sich die ARD mit einer "eher restriktiven" Publikationsstrategie im Netz begnügt und den Gebührenzahlern im Web neben ausgewählten Dossiers und Hintergrundberichten nur ein bis 2006 zurückreichendes Archiv der Tagesschau zur Verfügung stellt, könnte an ungeklärten Rechtefragen Dritter liegen, mutmaßt Classen. Es sei aber auch denkbar, dass sich die Vereinigung nach dem Scheitern des Portals "Germany's Gold" andere Zweitverwertungsmöglichkeiten offen halten wolle.

Den Versuch, auf der Plattform depub.org ein umfassendes Nachrichtenarchiv und alle öffentlich-rechtlichen Sendungen dauerhaft im Internet anzubieten, bezeichnete der Historiker als Beispiel eines "gescheiterten Zugangs" zum kulturellen Erbe. Das entsprechende Unterfangen sei zwar zunächst von der Spitze des NDR-Rundfunkrats als "Beispiel für die kreative Anarchie im Internet" und notwendiger Akt von Zivilcourage gelobt worden. Es habe sich aber nur knapp vier Wochen im Netz gehalten, danach sei der genutzte kanadische Server gesperrt und bis heute nicht mehr freigegeben worden. "Die Macher sind anonym geblieben", erläuterte Classen. Es liege nahe, dass Mitarbeiter der vom NDR produzierten Tagesschau selbst dahinter stecken und durch politischen Druck zur Räson gebracht worden seien.

Mit der zwölften Änderung des Rundfunkstaatsvertrags 2009 wurden die Online-Aktivitäten der Öffentlich-Rechtlichen deutlich eingeschränkt. Der Grundkonflikt zwischen gebührenfinanziertem Rundfunk und privater Presse habe mit dem Internet eine neue Dimension gewonnen, erläuterte der Wissenschaftler den Hintergrund. In "zunehmend medialisierten Gesellschaften" gingen den Zeitforschern aber die "relevanten Quellen" aus, "wenn wir die Rundfunkarchive nicht zugänglich machen". Vergleichsweise "alte" Inhalte sind seiner Ansicht nach "nicht wettbewerbsverzerrend".

"Wettbewerbsrechtler sagen: selbst die sieben Tage sind zuviel", gab dagegen der Karlsruher Urheberrechtler Thomas Dreier zu bedenken. Der Rundfunk habe sich auf seine klassischen Verbreitungswege zu beschränken. Vor den versammelten Bibliothekaren, Archivaren und Netzaktivisten warf der Experte die ketzerische Frage auf, ob frei zugängliche Informationen tatsächlich einen gesellschaftlichen Mehrwert schafften, und Apps, die auf offenen Daten fußten, für die Allgemeinheit ökonomisch sinnvoll seien.

Googles Copyright-Experte Cedric Manara beklagte, dass die Gemeinfreiheit von Werken in der EU-Urheberrechtsrichtlinie gar nicht auftauche und die rechtliche Handhabe der "Public Domain" so sehr schwierig sei. Dies sei gut für Rechtsanwälte, nicht aber für den Zugang zur Kultur. Mit der Ausdehnung von Schutzfristen schrumpfe die Allmende frei verfügbarer Werke. Es tue sich ein "kulturelles schwarzes Loch" zwischen der Veröffentlichung etwa von Büchern auf, wenn diese vergriffen seien und in der Regel erst 70 Jahre nach dem Tod des Autors in die Public Domain wanderten. Die Regeln müssten daher etwa durch das "Fair Use"-Prinzip deutlich vereinfacht und flexibler werden. (vbr)