Strom aus Atombomben

Russland und Indien entwickeln Kernkraftwerke, die weltweit die Atommüllhalden abtragen und Plutonium aus Atomwaffen verbrennen sollen. Ist das nur ein neuer Werbetrick der Atomlobby?

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Russland und Indien entwickeln Kernkraftwerke, die weltweit die Atommüllhalden abtragen und Plutonium aus Atomwaffen verbrennen sollen. Ist das nur ein neuer Werbetrick der Atomlobby?

Günther Oettinger ist ein optimistischer Mensch. Zukünftige Generationen hätten möglicherweise "bessere Ideen", wie man mit Atommüll umgehen sollte, erklärte der EU-Energiekommissar Anfang Juli. Deswegen müsse die strahlende Altlast deutscher Kernkraftwerke unbedingt rückholbar eingelagert werden. Der Vorschlag entfachte einen Sturm der Entrüstung, weil Oettinger auch gleich seine bevorzugten Standorte nannte: Sie sollten im Süden von Deutschland liegen, denn dortige Gesteinsschichten seien für diese Variante besonders geeignet.

Welche Hintergedanken er dabei möglicherweise hegte, zeigen zwei brisante Vorhaben in Russland und Indien. Dort stehen "schnelle Reaktoren" vor einer Inbetriebnahme, die mit ihren energiereichen Neutronen auch Atommüll als nuklearen Brennstoff nutzen können. Dabei handelt es sich um einen natriumgekühlten 800-Megawatt-Reaktor BN-800 in Beloyarsk unweit der Ural-Metropole Ekaterinburg sowie einen 500-Megawatt-Reaktor mit dem Kürzel PFBR (Prototype Fast Breeder Reactor) im südindischen Kalpakkam. Beide könnten bereits 2014 in Betrieb gehen.

Es wäre die unerwartete Verwirklichung eines Konzepts, an dem die Atomindustrie bereits seit den 1970er-Jahren arbeitet. Zahlreiche Länder forschten damals an "schnellen Brütern", die nicht nur wiederaufbereitete abgebrannte Brennelemente verwenden konnten, sondern nebenbei auch Plutonium als zusätzlichen Brennstoff erzeugen. Die natürlichen Uranreserven der Erde, so die Hoffnung damals, ließen sich so hundertmal besser ausnutzen als mit herkömmlichen Atomkraftwerken.

Doch Ende der 1980er-Jahre folgte die Ernüchterung: Die schnellen Reaktoren sind im Bau sehr viel teurer als herkömmliche Atomkraftwerke. Wirtschaftlich hätten sie sich nur dann gelohnt, wenn das Uran teurer geworden wäre – doch die weltweiten Uran-Reserven waren in den 1970er-Jahren unterschätzt worden. Dazu kam ein politisches Problem: Die Reaktoren eignen sich gut, um Plutonium für Atombomben zu produzieren. Die meisten Brüter-Programme wurden eingestellt.

Weil jedoch nach wie vor Endlager für den Atommüll fehlen, stößt die Technologie nun wieder auf großes Interesse. Schließlich lassen sich mit ihr abgebrannte Brennelemente aus den allgemein gebräuchlichen Leichtwasserreaktoren als Brennstoff nutzen und dabei auch langlebige und hochradioaktive Elemente spalten. Deshalb produzieren schnelle Reaktoren nur etwa zwei Prozent des Atommüll-Volumens konventioneller Meiler. Der strahlende Abfall müsste außerdem wesentlich weniger lange von der Umwelt isoliert werden – statt 30000 nur etwa 300 Jahre. "Brauchen wir damit keine atomaren Endlager mehr?

Nein, aber das Atommüll-Problem wird wesentlich entschärft", sagt Thierry Dujardin, stellvertretender Direktor der International Atomic Energy Agency (IAEA). Neben Russland und Indien versuchen sich zwar auch westliche Staaten, darunter Deutschland, an derartigen Lösungen. Sie setzen dafür allerdings auf ein anderes Verfahren, die sogenannte Transmutation. Sie birgt weniger Risiken, weil die Kernspaltung in diesen Reaktoren sich nicht selbst erhält, sondern von einem Beschleuniger angetrieben wird.

Aber die Technologie steckt noch in den Kinderschuhen. Gleiches gilt auch für den in Deutschland kürzlich heftig diskutierten "Dual-Fluid-Reaktor". Er soll 25-mal effektiver sein als konventionelle Reaktoren und ebenfalls Atommüll verbrennen können. Aber auch er ist noch weit von einer Realisierung entfernt.

Der BN-800-Reaktor, der derzeit als vierter Block des Atomkraftwerks Beloyarsk errichtet wird, ist dagegen so gut wie fertig. Die Ingenieure haben dafür das Vorgängermodell, den bereits 1980 in Betrieb genommenen BN-600, deutlich weiterentwickelt. Der BN-800 soll nicht mehr mit Uranoxid betrieben werden, sondern mit einer Mischung aus Uran und Plutonium. 34 Tonnen Plutonium aus abgerüsteten Interkontinentalraketen will Russland auf diese Weise unschädlich machen.

Das restliche Plutonium soll aus dem Atommüll konventioneller Reaktoren gewonnen werden. Zumindest bei der russischen Variante würde damit also kein neues waffenfähiges Plutonium entstehen. "Neue Materialien", welche die zuständige Atombehörde Rosatom allerdings nicht näher beschreiben will, sollen eine Reaktorlaufzeit von 60 Jahren ermöglichen. Die Anlage wäre damit wesentlich wirtschaftlicher als ihr Vorgänger. Laut Rosatom sollen die Stromkosten nicht höher sein als bei einem konventionellen Atomkraftwerk.