Verfassungsrichter Masing plädiert für "Chance auf Vergessen"

Auf einer Konferenz in Berlin sprach sich der Richter am Bundesverfassungsgericht gegen ein absolutes "Recht auf Reset" aus. Niemand könne Berichte über sich vollständig ausschließen.

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Für Johannes Masing, Richter am Bundesverfassungsgericht, kann es kein absolutes "Recht auf Reset" in der digitalen Welt geben. Eine "Chance auf Vergessen" gehöre zwar dazu, erklärte er am gestrigen Samstag auf einer Konferenz zur "Selbstermächtigung in Zeiten digitaler Kontrolle" in Berlin. So dürfe etwa nicht jeder Schritt rekonstruierbar sein. Datenschutz gehe aber zu weit, wenn er "freie öffentliche Kommunikation" ausschließe oder behindere. Der Einzelne könne etwa nicht verlangen, "dass über ihn gar nicht berichtet wird".

Masing hält das Recht "als politische Antwort auf die Herausforderungen der Informationsgesellschaft" weiterhin für erforderlich. Wer allein auf einen individuellen Bewusstseinswandel oder eine "Datenaskese" setze, überlasse "den Datenmächtigen die Welt". "Fair gehandelten" personenbezogene Informationen allein veränderten nichts, bezog er sich auf seinen Vorredner Evgeny Morozov, der zum Widerstand gegen die Vorherrschaft der Informationsökonomie aufgerufen hatte.

Datenschutz entspricht Masing zufolge einer Kommunikationsregulierung. Es dürfe daher etwa in der EU kein "mittelalterliches Oberaufsichtsrecht" geschaffen werden, kritisierte er weiter die stockende Brüsseler Datenschutzreform. Die diskutierte Verordnung weise zwar in die richtige Richtung, lasse aber keinen ausreichenden Spielraum für nationale Ergänzungen.

Nach Auffassung des Verfassungsexperten ist das Festzurren angemessenen Datenschutzes in der Wirtschaft besonders schwierig, da das Sammeln persönlicher Informationen auch zu den "Grundfreiheiten" von Unternehmen gehöre. Der Staat müsse daher vor allem eingreifen, wenn das Kräfteungleichwicht zwischen Datensubjekten und -verarbeitern besonders groß sei, wie etwa bei Internetkonzernen und den Nutzern ihrer Dienste. Ein wunder Punkt sei nach wie vor die Durchsetzung des Datenschutzrechts gegenüber Privaten. Auch er als Jurist etwa habe weder Zeit noch Lust, sich seitenlange einschlägige Erklärungen von Firmen durchzulesen und daraus Konsequenzen zu ziehen.

Den Datenschutz im öffentlichen Bereich hält Masing für weniger problematisch. Der Staat müsse sich für jede Verarbeitung persönlicher Informationen rechtfertigen. Er habe "keine Freiheiten, nur Aufgaben". Durch die wachsenden Datensammlungen der Wirtschaft gelangten aber auch Ermittlungsbehörden an mehr Informationen, schränkte der Jurist diesen Grundsatz ein. Jede Bewegung jedes Bürgers könne so "zumindest theoretisch rekonstruiert werden". Statt eines "hochspezifischen Vitaminpräparats" stünde so etwa Geheimdiensten nun ein "Breitband-Antibiotikum" zur Verfügung.

Die Politik muss laut Masing im Lichte der NSA-Affäre dafür sorgen, dass sich aus einem Nachrichtendienst "keine Geheim- oder Sonderpolizei für Terroristen oder organisierte Kriminalität" entwickle. Eine "Erweiterung der Aufklärungsmöglichkeiten" dürfe nicht zu einer "selbstdefinierten Aufgabenerweiterung" führen. Der Umfang der Geheimhaltung müsse transparent, Befugnisse detailgenau umschrieben sein. Auch die Zusammenarbeit mit ausländischen Diensten sei "hinreichend klar" zu regeln und dürfe nicht etwa vom "Geist des Besatzungsrechts" diktiert werden.

Frank Rieger vom Chaos Computer Club (CCC) gingen die Ausführungen des Rechtsexperten nicht weit genug. "Gegenüber Mächtigeren brauchen wir ein Recht auf Vergessen, nicht nur eine Chance", betonte der Hacker. Er warb für das umstrittene CCC-Konzept eines "Datenbriefs", mit dem Firmen ihren Kunden einmal im Jahr über gesammelte persönliche Informationen und deren Verwendung informieren müssten. Dies würde auch als eine Art Transaktionssteuer auf den Datenhandel wirken.

Auch staatliche Stellen wie Polizeibehörden hielten bestehende Schutzbestimmungen regelmäßig nicht ein, monierte Anke Domscheit-Berg, die für die Piratenpartei ins EU-Parlament ziehen will. Das Vertrauen Masings in das geltende Recht sei daher nur schwer nachzuvollziehen. "Unschuldige Informationen" gebe es nicht, da deren Auswertung jeden manipulier- und erpressbar mache. (ck)