Buchrezension "The Circle": Aufgelöst im Netz

In seinem Roman "The Circle" denkt Dave Eggers unsere Immer-online-Gesellschaft konsequent zu Ende – und kommt damit George Orwells "1984" sehr nahe.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Jens Lubbadeh

Das Silicon Valley ist nicht nur technischer Taktgeber, sondern – das ist die neue und wirklich dramatische Entwicklung der letzten Jahre – Kalifornien bestimmt zunehmend auch unsere Wertvorstellungen. Wenn Mark Zuckerberg sagt, dass er die Welt verbinden will, heißt das im Umkehrschluss: Unverbundenheit ist nicht mehr die Norm, Facebook definiert für uns, was ein "Freund" ist und entscheidet für uns, was wichtig ist. Genau wie Twitter und Google. Öffentlichkeit, so lernen wir, ist gut. Grund zur Sorge haben wir nicht, denn schließlich gilt: don't be evil.

Jens Lubbadeh

Jens Lubbadeh ist seit 2012 Redakteur bei Technology Review. Ob Plastik im Meer, Sharing Economy, Neurotechnik oder Virtual Reality – er kann sich für die unterschiedlichsten Themen begeistern, in sie abtauchen und einige Zeit später mit einem Text darüber wieder an Land gehen.

Dave Eggers hat in seinem Roman "The Circle" diese Welt konsequent zu Ende gedacht. Was passiert, wenn wir nicht mehr einfach nur drin sind im Netz, sondern vollkommen darin aufgehen? Was passiert, wenn das Individuum am Ende praktisch völlig gläsern geworden ist? Wenn der Circle vollendet ist? "Don't be evil", "I want to connect the world", "Making the world a better place", "Information wants to be free" – Eggers hat aus all diesen Silicon-Valley-Mantras eine Dystopie gewoben, die fast noch fürchterlicher erscheint als George Orwells "1984". Denn für ihre Verwirklichung ist die gesamte Technologie im Prinzip vorhanden.

Die Motive sind wie bei 1984: Jemand glaubt zu wissen, wie er die Menschen und die Welt besser machen kann. Bei Orwell sind es Politiker, bei Eggers ist es ein Konzern, der wie ein Amalgam aus Facebook, Google und Apple erscheint: elitär und perfektionistisch, gutmenschenhaft und größenwahnsinnig, vordergründig transparent, aber in Wahrheit so undurchschaubar wie die NSA.

Um seine Ziele zu verwirklichen, nutzt der Circle, so der Name des Konzerns, alle Mittel, die ihm zur Verfügung stehen. Was machbar ist, wird gemacht. Schnell, unbürokratisch, effizient und so rasant, dass Politik, Staat und Gesellschaft nur noch reagieren, aber nicht mehr agieren können. Doch damit nicht genug: Was der Circle tut, wird zur Tugend, zur Norm erklärt.

Am Ende steht die totale Kontrolle. Bei 1984 war sie zentralisiert durch den Big Brother, bei Circle ist sie dezentral: Wir selbst, als verbundener Schwarm, kontrollieren uns permanent gegenseitig. Denn immer mehr Menschen tragen Kameras und machen ihr Leben zu einem öffentlichen, ununterbrochenen Livestream.

"The Circle" ist spannend und intelligent geschrieben. Es ist ein Buch, das einen anfangs noch wütend macht, weil einem vieles aus der Arbeitswelt bekannt vorkommt – die Hinterlassenschaften der New Economy, die einem weismachen wollte, dass es keine Trennung zwischen Beruflichem und Privatem gibt. Dann aber wird es beklemmend und aufrüttelnd. Man fragt sich, wie weit man selbst schon ist auf dem Weg dahin. Und denkt: Möge es niemals so weit kommen.

Der Circle, Kiepenheuer & Witsch, 560 Seiten, 22,99 Euro

Die Buchrezension stammt aus der neuen Ausgabe von Technology Review 09/2014: Online ab Donnerstag, den 28.08.2014 bestellbar.

(jlu)