Kommentar zur Google I/O: Als gäbe es kein Übermorgen

Ein paar schöne Details zur IT-Welt von Morgen hat Google zwar gezeigt, aber die Vision fürs Übermorgen blieb aus. c't-Redakteur Jörg Wirtgen sucht den großen Wurf – und findet ihn bei Microsoft.

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Kommentar zur Google I/O: Als gäbe es kein Übermorgen
Lesezeit: 2 Min.
Ein Kommentar von Jörg Wirtgen

Schreibt seit 1999 für c't und heise online, anfangs über Mainboards und Prozessoren, dann Notebooks, seit vielen Jahren nun über Smartphones und Tablets. Daneben beschäftigen ihn Android-Programmierung und die Synchronisation des ganzen Geräteparks.

Wir saßen gestern alle ziemlich enttäuscht vor der Google-Keynote. Android M mit besserer Rechteverwaltung, ja, überfällig. Grenzenloser Cloud-Speicher bei Google Photos, ja klar, alte Datenkrake, zwinker, zwinker. Die Neuerungen von Android Wear waren größtenteils bekannt – so ein PR-Fehler wäre anderen nicht passiert, könnte man sagen. Doch was haben wir erwartet? Neue Nexus-Hardware? Ein paar GHz oder Cores mehr wären doch auch langweilig gewesen, und eine hochwertigere Smartwatch hätte nur Alles-geklaut-Rufe provoziert.

Etwas versteckt gab es dann doch eine Vision zu sehen, nämlich die Kontextsensitivität von Google Now. Hier arbeiten die Forscher daran, dass Computer uns wirklich verstehen, indem sie Informationen aus unserem direkten Umfeld interpretieren. Leider ist das in der Hinsicht unspektakulär, dass verstehende Computer in Science-Fiction-Filmen Alltag sind und man tief in der Technik stecken muss, um zu erkennen, warum das eigentlich noch nicht klappt.

Google I/O 2015

Ebenso sind die selbstfahrenden Autos eine Technik von Morgen, zu denen Google allerdings nichts neues berichtete. Die Integration von Android (oder auch iOS) in herkömmliche Autos wirkt hingegen altbacken. In den Auto-zentrierten USA mag das klappen, aber für mich in einer deutschen Großstadt (Achtung Treppenwitz: Hannover!) mutet es überhaupt nicht visionär an, am Auto noch etwas zu verbessern, sondern fast schon reaktionär. Das ist Technik von Gestern.

Enttäuscht war ich daher, dass eine Vision für Übermorgen fehlte. Die hatte Microsoft vorgelegt: die HoloLens. Niemand anders geht derzeit so weit von aktueller Technik weg; gegen eine zu Ende entwickelte HoloLens wirkt doch ein Smartphone wie eine Krücke, und eine Smartwatch wie die Krücke zum Bedienen einer Krücke.

Wenn man sich dann Google Jump im Vergleich anschaut, wird klar, wie weit Microsoft voraus ist: Die (unspektakuläre!) Kinect sammelte die ersten Erfahrungen mit 3D-Raumerkennung, und in HoloLens ist damit schon der 3D-Umgebungsscanner eingebaut, für den Google unelegant 16 GoPros zusammenschalten muss. Aus dem plumpen Gespann rendert Google dann gerade mal ein Wackelbild einer Motorradwerkstatt, wo Microsoft weitere Motorräder oder Reparaturanleitungen hinein projizieren könnte.

So sieht es also momentan aus: Apple zeigt die Technik von heute, Google die von morgen, und Microsoft – Mega-Verschlafer der Mobiltechnik von heute – die von Übermorgen. Wer hätte das noch vor ein paar Jahren gedacht... (jow)