Europa reloaded

Wie wirken sich politische Entscheidungen und wirtschaftliche Impulse auf die Gesellschaft aus? Um volkswirtschaftliche Prozesse zu analysieren und Langzeitwirkungen zu testen, lässt die EU die größte agentenbasierte Wirtschaftssimulation der Welt bauen.

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Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Ralf Grötker
Inhaltsverzeichnis

Bloß nicht nach dem Gießkannenprinzip! Wenn es um Forschungs- oder Wirtschaftsförderung geht, herrscht seltene Einmütigkeit unter den Experten: Gleichmacherei à la Gießkanne bringt wenig. "Exzellenz-Cluster" oder "Leuchttürme" hingegen, also die gezielte Förderung kleiner Inseln, genießen einen besseren Leumund. Zu Recht?

"Gute Argumente gibt es für beide Strategien", meint Herbert Dawid, Professor für Wirtschaftspolitik und mathematische Wirtschaftsforschung in Bielefeld. Doch belastbare Belege, ob die Finanzierung von Erfolg versprechenden Vorzeigeprojekten tatsächlich effizienter ist als die berüchtigte Breitenförderung, existieren kaum. Das europaweite Projekt "Eurace" soll künftig die Antwort auf solche Fragen liefern – und zwar auf Knopfdruck. Acht europäische und ein amerikanisches Forschungsinstitut haben sich in Eurace zusammengeschlossen, um nicht weniger als die gesamte europäische Wirtschaft im Computer zu simulieren.

Nicht nur der Rechenaufwand dafür ist beeindruckend – das gesamte Projekt läuft auf vierhundert parallel geschalteten "IBM pSeries 575"-Rechnern, die in Oxford stehen. Auch der wissenschaftliche Ansatz unterscheidet sich grundlegend von bisherigen ökonomischen Modellen: Die Simulation basiert auf virtuellen Wesen ("Agenten"), die individuelle Fähigkeiten und Möglichkeiten haben, die Arbeit suchen, miteinander Handel treiben, Geld verdienen, sparen und ausgeben. Deren Verhalten basiert zwar nach wie vor auf vorgegebenen Parametern, doch die stützen sich auf empirische Beobachtungen aus Psychologie und Sozialforschung – und sie können sich im Verlauf einer Simulation ändern.

Wenn die verschiedenen Eurace-Teilbereiche wie Arbeitsmarkt, Kredit- und Finanzwesen wie geplant im Laufe dieses Jahres zusammengeschaltet werden, beherbergen sie insgesamt eine Million Agenten. Damit wäre Eurace nach Angaben des Konsortiums das "bei weitem größte und vollständigste agentenbasierte Modell der Welt". Durch seine Größe, hoffen die Forscher, sollen auch seltene Phänomene entdeckt werden, die bei kleineren Simulationen unter den Tisch fallen würden. Zudem ermöglicht es die große Zahl der Agenten, die Heterogenität Europas mit all seinen unterschiedlichen Regionen abzubilden.

Mit diesem Mega-Modell sollen Fragen geklärt werden, die bislang außerhalb des Horizonts der Wirtschaftsforschung lagen. Herkömmliche ökonomische Modelle betrachten die Wirtschaft nämlich als eine Art Schaukelstuhl, der von irgendetwas – etwa dem Ölpreis-Schock – angestoßen wird und langsam wieder zum Stillstand kommt, wenn Angebot und Nachfrage sich dem Gleichgewicht nähern. Menschen kommen in solchen Modellen nur als Homo oeconomicus vor: Akteure, die topinformiert, rational-eigennützig und – vor allem – alle gleich handeln. Doch diese Modelle können nicht erklären, warum Systeme aus sich heraus Neues hervorbringen. Und sie sind blind für Krisen, die durch die Eigendynamik eines Marktes entstehen.

"Am Ende soll Eurace eine Plattform bieten, wo man sich als Wissenschaftler zusammen mit einem Politikberater an das Modell setzen kann, um Dinge durchzuspielen", sagt Herbert Dawid. Er zählt zu den führenden Wissenschaftlern auf dem Gebiet des agentenbasierten Modellierens und ist innerhalb des Eurace-Projekts für den Teilbereich Arbeitsmärkte und Realwirtschaft zuständig. Anders als bei herkömmlichen Modellen werden dabei Finanz- und Wirtschaftspolitik nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern ihre Wechselwirkung berücksichtigt.

Was die Simulation schon heute konkret leisten kann, lässt sich in Dawids Bielefelder Büro besichtigen. In seinem bereits fertig gestellten Bereich des europäischen Gesamtmodells – mit zunächst vierhundert Einwohnern und zehn Firmen in zwei Regionen – hat er sich schon einmal mit der Erforschung des Gießkannenprinzips befasst. Dazu entwickelten die Bielefelder Forscher ein komplexes Wechselspiel zwischen Agenten und Gesellschaft: Das Verhalten jedes Agenten wird durch fünf Parameter bestimmt (s. Kasten Seite 30). Die Agenten suchen sich gemäß ihrer Fähigkeiten eine Arbeit, erhalten entsprechenden Lohn, müssen Kosten für den Weg zur Arbeit in Kauf nehmen und geben ihr Einkommen zu einem gewissen Teil auf eigens eingerichteten Marktplätzen wieder aus. Die Unternehmen ihrerseits brauchen qualifizierte Mitarbeiter, um ihre Produktivität zu erhöhen. Das wiederum beeinflusst den Preis ihrer Produkte und damit auch den Konsum aller anderen Agenten.