Die Kondensation des Wissens

Dass ein loser Haufen von Hobbyschreibern die professionelle Konkurrenz bei der Berichterstattung über eine der größten Naturkatastrophen der Geschichte hinter sich lässt, demonstriert das gewaltige Potenzial verteilter Geistesarbeit in Computernetzen

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Lesezeit: 17 Min.
Von
  • Tobias Hürter
Inhaltsverzeichnis

Am 26. Dezember 2004 brach die Flutkatastrophe über die Länder am Indischen Ozean herein - und unter den weihnachtlichen Rumpfbesetzungen der deutschen Fernsehredaktionen brach ziellose Hektik aus. Man sah mehrmalige Wiederholungen der CNN- und BBC-Footage, Live-Übertragungen von deutschen Flughäfen und Moderatoren, die verstört in die falsche Kamera blickten. Südostasien- Korrespondenten weilten im Heimaturlaub, erhoffte Gesprächspartner hatten ihre Handys deaktiviert. Journalisten interviewten sich gegenseitig.

Wer wissen wollte, was Sache war im Unglücksgebiet, schaltete besser von den Profis zu den Amateuren um, am besten ins Internet. Dort bot ihm die Online-Enzyklopädie Wikipedia einen nüchternen und stets aktuellen Lagebericht. Er konnte verfolgen, wie im Minutentakt neue Nachrichten in Einträge wie "Erdbeben im Indischen Ozean 2004" integriert, abgeglichen, umstrukturiert und gestrafft wurden. Unter dem vorher kaum gepflegten Stichwort "Tsunami" vertieften sich Wikipedia-Autoren in die Geophysik des Meeresbodens und rangen mit der Mechanik von Flachwasserwellen. Faktensammlungen verdichteten sich zusehends zu Lexikontext von solchem Gehalt, dass ihn auch Rechercheure etablierter Medien konsultierten.

Bemerkenswerter als die Geschwindigkeit der Wikipedia ist ihr Zustandekommen. Sie wächst weit gehend selbstorganisiert, ohne zentrale Steuerinstanz. Jeder Besucher ihrer Website kann nach Belieben hineinschreiben, ihre Texte bearbeiten und für andere Zwecke entnehmen. Klick auf das Feld "Artikel bearbeiten" genügt, und der Leser wird zum Autor. Dass ein loser Haufen von Hobbyschreibern die professionelle Konkurrenz bei der Berichterstattung über eine der größten Naturkatastrophen der Geschichte hinter sich lässt, demonstriert das gewaltige Potenzial verteilter Geistesarbeit in Computernetzen. Wobei es sich versteht, dass der Erfolg solcher Gemeinschaftsvorhaben von den Regeln abhängt, unter denen die Einzelleistungen zusammengeführt werden - und das bedeutet bei der Wikipedia: möglichst keine Regeln. Die "Wikisophie" besteht in einer Kombination von Anarchismus und Darwinismus: Die Erstellung und Prüfung der Einträge liegt allein beim Nutzerkollektiv, in der Annahme, dass sich nur korrekte, ausgewogene und gute Texte in dieser Selektion durchsetzen. Nur ein wackeres Grüppchen ehrenamtlicher Administratoren pflegt die Datenbanken, moderiert den Textwerdungsprozess und beseitigt gröbste Fehlentwicklungen. Das Tor für Saboteure steht weit offen. Wenn es nach der Alltagspsychologie der Massen ginge, müsste diese Konstruktion ins Chaos führen.