Schach mit Patenten

Wer mit Technologie Geld verdienen will, kommt um Patente nicht herum. Doch von ihrer ursprünglichen Idee ist nicht mehr viel übrig geblieben. Fluch oder Segen?

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Lesezeit: 20 Min.
Von
  • Tobias Hürter
Inhaltsverzeichnis

Was wäre wohl aus Richard Snyder geworden, wenn er vor 800 Jahren in Europa gelebt hätte? Es war die Zeit der Ritter, von wehrtüchtigen Edelmännern mit hohen Idealen. Wenn aber ein Ritter in Geldnot geriet, verlegte er sich nicht selten auf Plünderei, Fehden und Straßenraub. Er verkam zum Raubritter. Richard Snyder gebietet über keine Burg, sondern über die texanische Firma Forgent, die ihr Geld mit Videokonferenz- Programmen verdiente - bis zum Hightech-Crash zu Beginn des Jahrtausends. Snyder musste sich nach neuen Geldquellen umsehen. Auf eine besonders ergiebige stieß er im Archiv einer Forgent-Tochter: US-Patent Nr. 4698672. Snyder machte sich und seiner Firma zu Nutze, dass die Schrift ein "Kodierungsverfahren zum Abbau von Redundanzen" schützt, dessen Algorithmus Ähnlichkeiten mit JPEG hat, dem wichtigsten Standard zur Kompression digitaler Bilder. Snyder ging amerikanische, europäische und japanische Elektronikkonzerne um Lizenzgebühren für die Nutzung von Nr. 4698672 an, wodurch nach Angaben des Unternehmens in den letzten zwei Jahren 90 Millionen Dollar in die brache Forgent- Kasse flossen, davon allein 16 Millionen Dollar von Sony.

Das freut Richard Snyder, aber aus Sicht der herrschenden Rechtfertigungslehre für den Erfindungsschutz ist Patent Nr. 4698672 ein Unding. Niemand wird behaupten, dass es den technischen Fortschritt fördert. Im Gegenteil: Womöglich bewirkt Snyders Raubzug, dass JPEG aus Browsern, Scannern und Digitalkameras verschwinden muss. Denn nicht alle Elektronikriesen wollen sich den frechen Texanern beugen, und so hat Forgent 31 Konzerne von Adobe bis Xerox auf Patentverletzung verklagt. Ein Erfolg der Klage, ob im Gerichtssaal oder außerhalb, wäre wohl das Ende des offenen JPEG-Standards. GERN WÜRDE MAN den Fall Forgent im Kuriositätenkabinett des Schutzrechts ablegen. Doch er illustriert die dunkle Seite einer Umwälzung, die sich seit Jahren im Patentwesen vollzieht. Zunehmend gewinnen Patente Bedeutung über den bloßen Erfindungsschutz hinaus. Sie sind zum strategischen Werkzeug geworden, zum Joker in Verhandlungen, zu Schutzmauern und Tretminen, zur Abschreckungs- und Terrorwaffe. Sie gelten als Insignien der Innovationsstärke innerhalb der Unternehmen und nach außen.

Die Industrie rüstet um die Wette: Allein die Zahl internationaler Patentanmeldungen durch deutsche Unternehmen hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Den Ursachen dafür sind Patentexperten des Karlsruher Fraunhofer-Instituts für Innovationsforschung in einer Studie nachgegangen. "Der zentrale Treiber", schreiben Jakob Edler und Kollegen, sei das um sich greifende strategische Patentieren.

Die Folge ist ein Dickicht von Schutzrechten, das selbst großen Konzernen die Bewegungsfreiheit nimmt und jungen Unternehmen den Zugang zum Markt blockiert. Um heute ein neues Mobiltelefon zu entwickeln und zu produzieren, braucht man Lizenzen für hunderte Patente der großen Hersteller. Untereinander haben die etablierten Riesen umfassende Patentaustausch- Abkommen vereinbart - zuletzt etwa Siemens und Microsoft. Neulinge bleiben draußen. Die Gefahr, dass Patente zum Spekulationsobjekt und Machtmittel der Technologiefürsten degenerieren, ist so real geworden, dass die Robin Hoods des Ideenfeudalismus ihre Abschaffung fordern. Auf seiner lichten Seite bietet dieser Wandel indes eine große Chance. Patente könnten zur Basiseinheit der Wissensgesellschaft werden: zu einer stabilen Währung für technisches Wissen. "Patente machen Erfindungen handelbar und konvertibel", sagt Jürgen Schade, der Präsident des Deutschen Patent- und Markenamts (DPMA) in München. Das Ende hängt entscheidend vom Verhalten der Akteure ab, von den Managern und Entwicklern, den Patentanwälten und von den "Notenbanken" der Wissensgesellschaft: den Patentämtern.

DER GRUNDGEDANKE VON PATENTEN besteht in einem Tausch: Der Erfinder bereichert den Corpus des allgemein zugänglichen Technikwissens, indem er sein Werk offenbart, und erhält dafür vom Staat das Monopol zur Verwertung seiner Innovation. Solches Recht auf geistiges Eigentum, wenn auch nur auf Zeit, versteht sich keineswegs von selbst, denn im Gegensatz zu materiellen Dingen lassen sich Ideen unabhängig voneinander mehrmals haben. Deshalb ist es üblich, zur Begründung des Erfindungsschutzes seinen vermuteten Nutzen für die Allgemeinheit heranzuziehen. Schutzrechte sollen Erfinder belohnen und anspornen - auch ihre Konkurrenten. Wer nämlich von einem Patent ausgeschlossen bleibt, so der Gedankengang, der mache sich auf die Suche nach Alternativen. Ob solche Argumente aber zutreffen, konnte bisher niemand wirklich nachweisen. Bewirken Patente überhaupt etwas Positives? "Man weiß es nicht", sagt Reto Hilty, Direktor am Münchener Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum. "Das ist eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten."

Am Beginn des Patentrechts standen alles andere als hehre Ziele. Als erstes Patentgesetz der Welt gilt die 530 Jahre alte "Parte Veneziana", die "neue und erfinderische Dinge" für zehn Jahre bei einer Strafe von hundert Dukaten vor Nachahmung schützte. Sie diente vor allem der Staatsräson: Man brauchte bessere Schiffstechnik im Seekrieg gegen die Osmanen. Aber die Parte Veneziana schützte auch friedliche Erfindungen. 1594 unterzeichnete der Doge die Urkunde zum Schutz einer "Vorrichtung zum Heben von Wasser und zum Bewässern von Land". Name des Anmelders: Galileo Galilei. Auch das moderne deutsche Patentrecht hat nicht eben idealistische Ursprünge. Die preußische Ministerialbürokratie Mitte des 19. Jahrhunderts prüfte Patentanträge so pedantisch, dass Werner von Siemens das Anmelden aufgab. 1877 bekam Deutschland nach langem Ringen ein einheitliches Patentgesetz, nicht zuletzt auf Siemens' Betreiben.

Im 20. Jahrhundert fand die Patentpraxis in geordnete Bahnen. Robuster Erfindungsschutz galt als Basis für den Aufstieg der großen Industrienationen. Doch die Ruhe trog: In der westlichen Wirtschaft baute sich ein Gleichgewicht der Abschreckung auf, das Kevin Rivette, Beirat der Boston Consulting Group in San Francisco, als "Mutually assured destruction" charakterisiert: "Die Technologie-Unternehmen horteten Patente, aber nutzten sie rein defensiv", sagt Rivette. Man nahm die Nutzung der eigenen Patente durch die Konkurrenz hin, weil man umgekehrt auch deren Schutzrechte berührte. "Verklagst du mich, verklage ich dich", war die Drohung, die freilich selten in die Tat umgesetzt wurde. Das instabile Gleichgewicht hielt, solange Produkte und Kapital innerhalb der Staatsgrenzen blieben.

ES WAR DER AMERIKANISCHE HALBLEITERKONZERN Texas Instruments, der Mitte der 1980er Jahre mit dem allseitigen Stillhalten brach. Als billige Chips aus Asien den US-Markt überfluteten, entschloss man sich in Dallas zum juristischen Gegenschlag. Man verglich die Produkte der Konkurrenz mit den eigenen Patentschriften und verklagte neun japanische und koreanische Firmen auf Patentverletzung. Die neun außergerichtlichen Vergleiche brachten Texas Instruments insgesamt mehr als eine Milliarde Dollar an Lizenzzahlungen ein. Bald suchte der Konzern sich weitere Klageopfer in Europa und den USA. Das Lizenzgeschäft wuchs zum umsatzstärksten Unternehmensbereich.