Kleiner Lauschangriff, ganz groß

Die Zahl der Anordnungen zur Telekommunikationsüberwachung ist im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2004 um rund 24 Prozent auf insgesamt 42 508 gestiegen. Vor allem im Mobilfunk und bei der E-Mail-Überwachung gibt es starken Zuwachs. Der Bundesdatenschutzbeauftragte und Oppositionspolitiker zeigen sich enttäuscht über den anhaltenden Trend zu mehr Überwachung.

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Die neue Jahresstatistik der Bundesnetzagentur zu strafprozessualen Überwachungsmaßnahmen im Telekommunikationsbereich hat die Debatte über eine Reform der tief in die Grundrechte einschneidenden Maßnahme wieder belebt. „Egal ob Internetzugang, Festnetzanschluss oder E-Mail, trotz fallender Kriminalitätsentwicklung steigt die Zahl der Fälle, in denen die Ermittlungsbehörden zum Hörer greifen und Beschuldigte wie unbeteiligte Dritte abhören“, empört sich Jerzy Montag, rechtspolitischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion. Gegen die „Überwachungsflut“ müssten endlich „Dämme“ errichtet werden. Die innenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Gisela Piltz, ist ebenfalls „erschrocken“ über den „massiven Anstieg“ des Kleinen Lauschangriffs - die Bezeichnung kommt vor allem im Unterschied zum „Großen Lauschangriff“ zum Einsatz, dem vom Bundesverfassungsgericht verworfenen, heimlichen Wohnraumüberwachung bei Verdacht von Straftaten. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar bedauert, „dass die Appelle von Seiten des Datenschutzes zu keiner Trendwende geführt haben.“

Die Bundesnetzagentur verzeichnet vor allem im Mobilfunk eine stetig steigende Anzahl der Überwachungsmaßnahmen.

(Bild: Bundesnetzagentur)

Laut den von der Bundesnetzagentur zusammengestellten Angaben der Telekommunikationsunternehmen kletterte die Summe der Anordnungen für Überwachungsmaßnahmen im Telekommunikationsbereich gemäß der Paragraphen 100a und 100b Strafprozessordnung im Vergleich zu 2004 um rund 24 Prozent auf 42 508. Bei den Maßnahmen geht es um die Inhaltsüberwachung, also klassische Abhörmaßnahmen bei Kommunikationseinrichtungen oder die Abfrage der vollständigen Kommunikationsdaten im Online-Bereich. Die Anzahl der tatsächlich betroffenen Bürger liegt bei einem Vielfachen der ausgestellten Abhörberechtigungen. Über ihre genaue Höhe lässt sich nur spekulieren. Laut einer Studie der Universität Bielefeld gerieten bereits durch die 21 974 Anordnungen im Jahr 2002 mehr als 1,5 Millionen Bürger in die Netze der Lauscher, weil sie überwachte Anschlüsse angerufen haben oder von dort aus kontaktiert wurden. Damals sollen über 20 Millionen Telefongespräche abgehört worden sein. Eine Hochrechnung des kriminologischen Instituts der Universität Münster ging für denselben Zeitraum sogar von knapp vier Millionen Betroffenen aus.

Die größte Zunahme hatte 2005 erneut der Mobilfunkbereich zu verzeichnen, wo Ermittler statt 34 855 Rufnummern im Vorjahr 42 011 Kennungen abhörten. Ob sich das exponentielle Wachstum in diesem Sektor allein mit der gleichzeitig höheren Beliebtheit des Handys in der Gesamtbevölkerung und bei Kriminellen erklären lässt, stellen Experten infrage. Prozentual deutlich zugelegt hat auch die E-Mail-Überwachung: Sie stieg von 78 in Anordnungen aufgeführten Kennungen im Jahr 2004 auf 365 im vergangenen Jahr und hat sich damit mehr als vervierfacht.

Mehr als verdoppelt hat sich die Überwachung von DSL- oder Kabelnetzverbindungen, die 193 Kennungen betraf. Ob die im Vergleich zum klassischen Telefonsektor noch überschaubare Anzahl der Maßnahmen rund ums Internet den kostspieligen Aufwand gemäß der umstrittenen Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV) rechtfertigt, beschäftigt die Provider nach wie vor.

Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat sich einmal mehr gemeinsam mit Oppositionspolitikern dafür ausgesprochen, die Rechtsvorschriften für den Kleinen Lauschangriff in der Strafprozessordnung dringend zu überarbeiten. Schaar konstatiert ernüchtert, dass von der Bundesregierung selbst in Auftrag gegebene Studien zur Novelle der Telekommunikationsüberwachung wie etwa ein Gutachten des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht „bislang keinerlei Wirkung“ zeigen. Forscher monieren immer wieder, dass der Richtervorbehalt ins Leere läuft und nur ein Bruchteil der Betroffenen tatsächlich von einer Maßnahme nach deren Abschluss in Kenntnis gesetzt wird.

Den Bundesdatenschutzbeauftragten beunruhigt zudem besonders die Tendenz, „den Einsatz verdeckter technischer Mittel zum Zweck der Strafverfolgung immer weiter auszubauen“. Dies zeige sich auch mit der vom EU-Parlament Ende 2005 beschlossenen EU-weiten 12- bis 24-monatigen Speicherung von Verbindungs- und Standortdaten (siehe c't 6/06, S. 86). Im Rahmen der Umsetzung dieser Richtlinie gehören laut Schaar „endlich auch die Vorschriften der Telefonüberwachung auf den Prüfstand.“ Dabei müsse die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz des Kernbereichs der privaten Lebensgestaltung mitberücksichtigt werden, was Vertreter der Polizeien aber kategorisch ablehnen.

International gesehen liegt Deutschland in der Liga der Lauscher ganz weit vorn. Besonders aktiv sind etwa auch die italienischen Strafverfolger, die im vergangenen Jahr einem Bericht des römischen Justizministeriums zufolge 106 000 genehmigte Abhöraktionen durchführten. 2001 waren es noch 32 000. Wie viele Anordnungen dafür ergingen, ist nicht bekannt. In den USA sind dagegen in 2005 laut Angaben des Verwaltungsbüros der US-Gerichtshöfe „nur“ 1773 von Bundes- und Staatengerichte genehmigte Lauschmaßnahmen vollendet worden. Dies entspricht einem Anstieg von vier Prozent zum Vorjahr. Die Zahl der von Bundesbehörden beantragten Abhöranordnungen fiel sogar um 14 Prozent auf 625. Durchschnittlich sollen von jeder Berechtigung 107 Bürger betroffen gewesen sein. Geheimdienstliche Überwachungsmaßnahmen werden von den aufgeführten Landesstatistiken nicht erfasst. Experten gehen davon aus, dass derlei nicht von Richtern abzusegnende und sich einer demokratischen Kontrolle weitgehend entziehende Lauschangriffe häufiger durchgeführt werden als die Bespitzelungen durch die Ermittler. (jk)