Lauschangriff vermasselt: Teilsieg für die Bürgerrechte

Bürgerrechtsorganisationen, Datenschützer und Politiker aller Couleur sehen das Verfassungsurteil zum Großen Lauschangriff mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

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Datenschützer, Bürgerrechtler, Sicherheitsbehörden und Innenpolitiker werden in den nächsten Tagen vor allem ein Dokument gründlich studieren: das über 100 Seiten lange Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Großen Lauschangriff, das inzwischen online in voller Länge verfügbar ist. Einen "richtungsweisenden" Spruch haben die Träger der roten Roben in Karlsruhe produziert, sind sich alle Beobachter mit der Einschätzung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, Peter Schaar, einig. Doch ansonsten ziehen sie sehr unterschiedliche Konsequenzen aus der teilweisen Ablehnung der 1998 von einer Mehrparteien-Koalition eingeführten Strafverfolgungsmaßnahme. So spricht der linke Altgrüne Hans-Christian Ströbele von einem "klaren Erfolg für die Bürger und ihre Grundrechte". Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach und der rechtspolitische Sprecher der Union, Norbert Röttgen, sehen die akustische Wohnraumbespitzelung dagegen "im Grundsatz gebilligt". Das Bundesjustizministerium betitelt seine Stellungnahme gar: "Karlsruhe bestätigt: "Großer Lauschangriff" verfassungsgemäß".

"Meine erste Reaktion war Enttäuschung", zeigt sich Thilo Weichert, stellvertretender Landesdatenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein, gegenüber c't aktuell unzufrieden mit dem höchstrichterlichen Votum. Der progressive Datenschützer hatte gehofft, dass die Verwanzung der privaten vier Wände insgesamt gekippt und die Unantastbarkeit der Wohnung wiederhergestellt würde. Einen "hundertprozentigen Sieg des Persönlichkeitsrechts" mag der Kieler nicht feiern. Dennoch sieht Weichert die "sehr weite Fassung des Lauschangriffs", welche die schwarz-gelbe Koalition 1998 in den letzten Zügen der Kohl-Regierung mit den Stimmen der SPD verabschiedete, zu Recht in Frage gestellt.

Optimistischer lesen die Grünen und Bürgerrechtsverbände die Karlsruher Entscheidung. Eine "eindeutige Schlappe für die Befürworter des Großen Lauschangriffs" erkennt Ströbele darin. Die Weisheit "My home is my castle" könne wieder zu Ehren kommen, da die Richter klargestellt hätten, dass Ermittler "im Intimbereich nichts zu suchen haben". Lauschangriffe müssten künftig "sofort abgebrochen werden", sobald sich Personen in einer Wohnung "streiten oder lieben". Auch Nils Leopold, Bundesvorstand der Humanistischen Union, freut sich über einen "guten Tag für die Bürgerrechte". Er bedauert zwar, dass nur zwei Richterinnen in der Bespitzelung einen grundsätzlichen Verstoß gegen die im Artikel 1 des Grundgesetzes geschützte Menschenwürde erkannten und dies in einer Minderheitsmeinung zum Ausdruck brachten. Die vom Gericht gemeinsam gezogenen Schranken für die Durchführung des Großen Lauschangriffs, die vor allem Paragraph 100 c der Strafprozessordnung regelt, seien jedoch nur unter "enormen Kosten für die Sicherheitsbehörden" zu bewältigen. So müsste künftig immer eine zweite Fachperson live mithören, um rechtzeitig den Ausknopf zu drücken. Damit würde die Sache "faktisch undurchführbar".

Große Erleichterung herrscht auch bei Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Die FDP-Politikerin, die aus Protest gegen die Zustimmung ihrer Partei zum Wanzengesetz von ihrem Posten als Bundesjustizministerin zurücktrat und zusammen mit weiteren Vertretern des linken FDP-Flügels die Klage in Karlsruhe einreichte, ist erfreut, dass "die Wertmaßstäbe der Verfassung wieder eine höhere Gewichtung erfahren". Die Menschenrechte könnten fortan "nicht mehr als drittrangig gegenüber der Inneren Sicherheit" abgetan werden. Der Gesetzgeber, so ihre Forderung, müsse auf Basis des Urteils eine klare Kurskorrektur vornehmen und vor allem die "Schily-Gesetze" zur Terrorismus-Bekämpfung gründlich überarbeiten.

Inwieweit der Standpunkt der Verfassungsrichter wirklich Signalwirkung gegen Tendenzen zum Big-Brother-Staat hat, wollen Experten allerorten ausloten. "Ich hoffe, dass das Urteil eine weitreichende Bedeutung für andere Überwachungsfälle hat", erklärt Leopold. Seine Institution werde alles daran setzen, "um den Honig daraus zu saugen". Rückenwind erwartet er für einen weiteren Prozess gegen die fortschreitende Videoüberwachung des öffentlichen Raums oder für die laufende Verfassungsbeschwerde der Humanistischen Union gegen den IMSI-Catcher.

Schwung dürfte das Votum auch in die von vielen Seiten geforderte Neuregelung der überhand nehmenden Telefonüberwachung bringen. Die "maßstabsetzenden Grundsatzentscheidungen" aus Karlsruhe seien auch in diesem Bereich umzusetzen, erwartet der Bundesdatenschutzbeauftragte. "Wir müssen Schranken einbauen, die halten", setzt sich ferner Ströbele mit Rückendeckung eines aktuellen Parteibeschlusses der Grünen für eine deutlich restriktivere Fassung des Telefonabhörens ein. Jörg Tauss, medienpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, erkennt in dem Urteil denn auch eine "wichtige Gelegenheit, um die datenschutzrechtlichen Regelungen beim Telekommunikationsgesetz und in den elektronischen Medien allgemein neu unter Aspekten des Persönlichkeitsschutzes zu diskutieren." Selbst Bundesjustizministerin Brigitte Zypries ließ durchblicken, dass ihr mit den "heimlichen Ermittlungsmaßnahmen" der Verwanzung und der Telefonüberwachung nicht ganz wohl ist. Sie versprach Reformen in beiden Bereichen, obwohl sie den Großen Lauschangriff grundsätzlich nach wie vor für gerechtfertigt hält.

Generell bietet das Urteil die Chance, Tendenzen zur gedankenlosen Einrichtung eines Hightech-Überwachungsstaats nach dem 11. September grundsätzlich zu hinterfragen. "Inzwischen scheint man sich an den Gedanken gewöhnt zu haben, dass mit den mittlerweile entwickelten technischen Möglichkeiten auch deren grenzenloser Einsatz hinzunehmen ist", beklagen die Abweichlerinnen in Karlsruhe in ihrer Stellungnahme. Angesichts des Angriffs auf die Intimsphäre müsse die Gesellschaft aber darüber diskutieren, ob ihr Menschenbild noch dem "einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie entspricht." Angesichts der wenig erfolgreichen Bilanz der Wohnraumüberwachung sieht auch der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin (FDP) die Zeit gekommen, um wieder "mehr Ruhe und Mäßigung in die Rechtspolitik einkehren" zu lassen: "Purer Aktivismus kann hier nicht der richtige Weg sein". (anm)