Tote Innenstädte?

Der Online-Handel bedroht die Einkaufsmeilen. Nun stemmen sich die Einzelhändler dagegen und rüsten digital auf. Unser Autor wollte wissen, ob das wirklich die Zukunft ist – und ging einkaufen.

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Inhaltsverzeichnis

Der Online-Handel bedroht die Einkaufsmeilen. Nun stemmen sich die Einzelhändler dagegen und rüsten digital auf. Unser Autor wollte wissen, ob das wirklich die Zukunft ist – und ging einkaufen.

Alle Kanäle meines Smartphones sind sperrangelweit offen für jeglichen Annäherungsversuch – GPS, Bluetooth, WLAN. So spaziere ich eines schönen Samstags vor der SportScheck-Filiale in Hannover auf und ab und warte darauf, dass mir die Zukunft auf die Schulter tippt. Doch nichts passiert. Erst am Montag bekomme ich die frohe Botschaft: "SportScheck erlässt dir für deinen Einkauf 10 Prozent."

Eigentlich sollen solche "Location Based Services" Kunden ins Geschäft locken, wenn sie gerade in der Nähe sind. Kommt ein Smartphone in die Reichweite eines kleinen Beacons ("Funkfeuer"), kann der Händler ihm Werbebotschaften zuspielen. Voraussetzung: Es muss eine entsprechende App installiert (aber nicht geöffnet) und Bluetooth aktiviert sein. Auch der Düsseldorfer Flagship-Store von Tommy Hilfiger ist seit Kurzem mit Bluetooth-Beacons ausgestattet. Doch bei einem Test Mitte September ließ sich die dazugehörige App erst gar nicht starten. "Daran wird noch gearbeitet", vertrösten mich zwei sichtlich zerknirschte Verkäuferinnen. "Kommen Sie in drei bis vier Tagen noch mal wieder."

Wenn stationäre Händler auf diese Weise gegen Online-Shops antreten wollen, haben sie ein Problem. Die Zalandos und Amazons dieser Welt sind 24 Stunden geöffnet, sie bieten maßgeschneiderte Sonderangebote, haben eine gigantische Auswahl. Und sie legen weiter nach: mit virtuellen Anproben, frischen Lebensmitteln und Zustellung am selben Tag. So wächst der Druck auf den stationären Handel. Nach einer Studie des Instituts für Handelsforschung (IFH) in Köln soll bis 2020 jedes zehnte Ladengeschäft vor dem Aus stehen.

Doch es gibt einen Gegentrend: Laut Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) stiegen die Online-Umsätze in den letzten Jahren langsamer als gewohnt. Als Ursache sieht die GfK die "Innovationskraft und Anpassungsfähigkeit des stationären Handels". "Crosschannel", "Multichannel" oder "Omnichannel" lauten die dazugehörigen Buzzwords. Soll heißen: Die Kunden kaufen je nach Lust und Laune mal im Netz, mal im Laden. Also müssen die Händler ihnen auf allen Kanälen folgen.

Das klingt zunächst wenig neu. Doch dahinter verbergen sich einige überraschende Phänomene: So holen etwa immer mehr Kunden ihre online bestellte Ware im Laden ab ("Click & Collect"). Bei MediaMarkt-Saturn machen das schon 40 Prozent der Online-Käufer. In Ingolstadt hat die Elektronikkette deshalb einen Automaten aufgestellt, an dem Kunden rund um die Uhr ihre Ware abholen können. Sie sparen sich auf diese Weise Versandkosten und Wartezeiten. Und der Händler bekommt seine Kunden öfter mal persönlich zu Gesicht. Wenn er es geschickt anstellt, kann er ihnen dann zur online erworbenen Kaffeemaschine noch eine Packung Kaffeepads verkaufen.

Ein weiteres Phänomen: Während viele Shopper sich früher ausführlichst in Fachgeschäften beraten ließen, um dann möglichst billig im Internet zu kaufen, gehen Verbraucher heute zunehmend umgekehrt vor: Dem IFH zufolge werden 40 Prozent der stationären Käufe online vorbereitet – meist durch eine Produktrecherche bei Amazon. "Beratungsklau scheint kaum noch ein Thema zu sein: Lediglich vor jedem zehnten Online-Kauf wird ein stationäres Ladengeschäft aufgesucht", schreibt das IFH.

Online-Handel kann das stationäre Geschäft also durchaus beleben, meint IFH-Forscherin Eva Stüber. Dazu trägt noch ein weiterer Trend bei: Viele klassische Online-Händler wie MyMuesli, notebooksbilliger.de, Cyberport oder Zalando eröffnen eigene Stores oder Showrooms. "Die einstmals überzeugten Pure-Online kommen zu der Überzeugung, dass sie mit ihrer reinen E-Commerce-Ausrichtung an ihre Grenzen stoßen", schreibt der Handelsverband Deutschland (HDE). So lassen sich auch Kundengruppen erreichen, die mit dem Internet nicht viel am Hut haben.

Wollen die etablierten Läden kontern, müssen sie sich zur Decke strecken. Allerdings sähen "weite Teile des Einzelhandels" den Onlinehandel "immer noch als Feind statt als Freund", meint Gerrit Heinemann, Professor für Management und Handel an der Hochschule Niederrhein. "Es gibt noch ein Zeitfenster von zwei Jahren, danach wird der Vorsprung der Onliner zu groß sein", sagte er gegenüber dem Magazin "brand eins".

Ob kleine Händler unbedingt einen eigenen Onlineshop aufmachen müssen, ist unter Experten umstritten. Oft würde es schon reichen, wenn wenigstens die verfügbaren Produkte und ihre Preise online gefunden werden. Denn genau danach suchen potenzielle Kunden oft, wie eine Studie des Werbe-App-Anbieters KaufDA besagt. Derzeit seien die stationären Händler allerdings kaum in der Lage, "aktuelle Warenverfügbarkeiten fehlerfrei und automatisiert weiterzugeben", so Heinemann.

Markus Müller wundert das nicht: "Wenn Sie sich mal anschauen, wie es in einer Boutique bei der Warenanlieferung aussieht – da stapeln sich die Kartons oft sogar in den Umkleidekabinen." Und manuelle Inventuren lägen gern mal um 10 bis 15 Prozent daneben. Logisch, dass Stücke öfters unentdeckt im Lager vor sich hin gammeln. Hierfür hat sich die Branche ein griffiges Akronym einfallen lassen: "Nosbos" – not on shelf, but on stock.

In Müllers eigener Boutique kann das nicht passieren – schon allein deshalb, weil sie kaum größer ist als ein Kinderzimmer. Vor allem aber, weil jedes einzelne Kleidungsstück ein Funketikett ("RFID-Tag") besitzt. Der Mini-Laden befindet sich im ersten Stock der Zentrale von GS1 Germany GmbH in Köln-Braunsfeld, fernab jeglicher Kundschaft. Er soll demonstrieren, was technisch am "Point of Sale" alles geht. Die GS1 ist unter anderem dafür zuständig, Balkencodes, Produktziffern und Datenflüsse zwischen Händlern und Herstellern zu standardisieren. Und eben RFID-Tags. Die Funkchips waren mal ein großer Hype im Handel, dann wurde es still um sie. Ihre Kosten sind mittlerweile auf wenige Cent gesunken. Für den preissensiblen Lebensmittelhandel ist das zwar immer noch zu viel. In der Textilbranche verbreiten sie sich aber stetig, vor allem bei Billiganbietern wie Zara und C&A. Meistens stecken sie in den Preisschildern.

Markus Müller, bei GS1 für Mode, Schuhe und Sport zuständig, zeigt mir, wie schnell eine komplette Inventur mit Funkchips geht. Dazu streicht er mit einem paddelförmigen Lesegerät von der Größe eines Tischtennisschlägers über Jeansstapel und Kleiderstangen. In wenigen Sekunden erscheint das Sortiment mit einer Genauigkeit von 99,5 Prozent auf dem Tablet.

Doch die besten Bestandsdaten nutzen nichts, wenn der Verkäufer keinen Zugriff darauf hat. Deshalb drücken viele Läden ihren Kundenberatern Tablets in die Hand. Bei Marc O'Polo können die Tablets noch mehr: Scannt der Verkäufer eine Kundenkarte ein, bekommt er einen Überblick über dessen letzte Käufe. Außerdem kann er etwa ein T-Shirt, das nicht mehr in der gewünschten Größe auf Lager ist, in den Online-Warenkorb des Kunden legen. Nach dem Kauf muss sich der Kunde dank Tablet idealerweise nicht mehr an einer Kasse anstellen, sondern kann gleich – bargeldlos – beim Verkäufer zahlen.