Zugfahrt unter Kontrolle

Der neue ICE 4 kommt ohne Abteilplätze aus. Kein großer Verlust für Fahrgäste, aber ein Gewinn für die Sicherheit im Zug?

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Ab 10. Dezember ist es soweit: Mit Beginn des Winterfahrplans der Deutschen Bahn wird der neue ICE 4 regulär in den Betrieb genommen. Dann befördern die ersten Züge Fahrgäste auf der Strecke Hamburg-Stuttgart und Hamburg-München durch das Land. Wer unter den Bahnreisenden Glück hatte, konnte im Verlauf des Jahres vielleicht schon einmal den Zug der neuesten Generation zwischen Hamburg und München testen. Für mich jedenfalls heißt die Neuerung jedenfalls, dass ich als Berufspendlerin zwischen Hannover und Göttingen künftig auch im ICE 4 mitfahre.

Neben den technischen Besonderheiten (mit 13.200 PS der stärkste ICE und einer Motorleistung von 9.900 kW) gibt es auch einige minimalistischen Neuerungen, mit denen die Bahn einen Platzgewinn verspricht, wie etwa in der Sitzschale verstellbare Sitze, so dass der Hintermann nicht gestört wird. Den buchstäblich größten Unterschied macht jedoch wohl, dass im ICE 4 künftig die Abteile fehlen. Der Zug bietet ausschließlich Großraumwagenplätze. Damit reagiert die Bahn auf einen spürbaren Trend, denn bereits seit den 1980er Jahren gehe die Nachfrage nach Abteilplätzen deutlich zurück. Ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen: Erst die Auslastung im Großraumwagen überprüfen, dann – notfalls – ins Abteil. Dort findet sich meist einer der unbeliebten Plätze (mittig und gegen die Fahrtrichtung).

Was gut für die Bahn ist, weil ohne Abteile mehr Fahrgäste auf der Fläche befördert werden können, könnte sich soziologisch betrachtet auch auf das temporäre Zusammensein der Fahrgäste und der Zugbegleiter auswirken. Wie der Soziologe Armin Nassehi in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung berichtet, bietet gerade die Enge von öffentlichen Verkehrsmitteln für die Fahrgäste "Freiheit nicht trotz, sondern wegen sozialer Kontrolle." Demnach müsste im Großraumwagen aufgrund der Vielzahl an zusammengepferchten Individuen mehr soziale Kontrolle herrschen, als im diskreten Abteil. Die Freiheit ist dabei aber eine Freiheit, die einem Fahrgast ermöglicht, je geradezu erforderlich macht, den unbekannten Sitznachbarn in Ruhe zu lassen und sich nicht weiter für ihn zu interessieren. Der Soziologe Georg Simmel hatte das einst im Kontext des Zusammenlebens in der Stadt als die Blasiertheit von Individuen beschrieben, die Abgestumpftheit von Menschen untereinander und eine der Voraussetzungen zum dicht gedrängten Leben in der Stadt bei gleichzeitigem Ausleben seines Selbst. Bei jedem Gang durch einen Großwagen muss ich an diesen Ausdruck denken, wenn die Menschen in ihre Tablets, Laptops oder auch Bücher und Zeitschriften vertieft sind. Ein friedlich-desinteressiertes Zusammenleben auf Zeit, bis man aussteigen muss.

Und "friedlich" ist genau das Stichwort, auf das die Deutsche Bahn vielleicht ebenso abzielt, wie den Platzgewinn, der ohne Abteilplätze entsteht. Denn laut Bahn-Statistik häufen sich die gemeldeten Attacken in Zügen kontinuierlich. So wurden 2013 1199 Übergriffe im Zug gemeldet, die Zahl stieg weiter. 2016 gab es 2374 Vorfälle und schon im ersten Halbjahr 2017 verzeichnet die Bahn 1200 Gewalttaten. Der abteillose ICE 4 könnte, gerade wegen der höheren sozialen Kontrolle durch mehr Menschen, eine Möglichkeit sein, diesem Statistik-Trend beizukommen. Man darf also gespannt sein, ob mit der technischen Neuerung des ICE 4 auch eine soziale Besserung eintritt.

(jle)