Der große Benutzeroberflächenraub

Manche Geschichten werden so oft erzählt, dass Mythen zu scheinbaren Fakten gerinnen. Ein famoses Beispiel ist die Herkunft der digitalen Schreibtischoberfläche.

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Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Peter Glaser

Die Computerrevolution beginnt mit einer Geschichte, die dem altgriechischen Mythos von Prometheus ähnelt. Im Dezember 1979 wurden Steve Jobs und ein paar Ingenieure der jungen Firma Apple von der Xerox Corporation in deren renommierte Entwicklungsabteilung im Palo Alto Research Center (PARC) eingeladen. Bei diesem Besuch seien Jobs an einem Xerox-Computer namens ALTO (hier ein Werbespot) geheime Dinge wie eine "Maus" und ein "Desktop" vorgeführt worden – eine symbolische Schreibtischoberfläche mit "Fenstern" und Icons.

Diese Wunder der Technik wurden von Leuten unter Verschluss gehalten, die das revolutionäre Potenzial ihrer eigenen Erfindungen nicht verstanden. Jobs dagegen sei augenblicklich erleuchtet gewesen und habe Anweisung gegeben, die Idee mit dem Schreibtisch zu kopieren. Wie Prometheus stahlen die Apple-Ingenieure das Feuer von den Göttern, um es den Menschen zu geben.

Es ist einer der Gründungsmythen des Computerzeitalters. Er hat nur einen Haken: Er stimmt nicht. Zu der Zeit lief bei Apple ein konspiratives Projekt, das Jobs persönlich vorantrieb und das 1984 in der Präsentation des Apple Macintosh gipfelte – des ersten Computers mit einer grafischen Nutzungsoberfläche, der zum Massenprodukt wurde. Wie Dokumente und Apple-Mitarbeiter von damals belegen, hatte die neue Maschine aber auch schon vor dem Besuch bei Xerox eine benutzerfreundliche Oberfläche, an der ständig weiter herumexperimentiert wurde.

Für einen symbolischen Schreibtisch hatte man sich entschieden, da die Handhabung von Computern den meisten Menschen fremd war, der Umgang mit einem Schreibtisch dagegen vertraut und alltäglich. Es war von großer Bedeutung, ein Bedienkonzept zu finden, das Computerneulinge – damals der Großteil der Menschheit – möglichst intuitiv erfassen konnten.

Es gab auch noch andere Ansätze als den virtuellen Schreibtisch. Bill Atkinson, der die Grafikbibliothek des Macintosh programmierte, erinnert sich an einen Ausflug einige Zeit vor dem Besuch bei Xerox – nach Boston, in das MIT Media Lab. Dort führte man eine futuristische Vorrichtung zur Datennavigation namens Spatial Data Management System vor. Mit Steuerhebeln konnte man auf einem großen Bildschirm über Datenlandschaften fliegen und sich bis in die Details hineinzoomen.

Atkinson übernahm die Idee. Er programmierte einen gigantischen Schreibtisch, mehr als einen Quadratkilometer groß, und experimentierte damit, Ausschnitte davon möglich schnell auf einen kleinen Bildschirm zu bringen. Dokumente wurden durch Icons dargestellt, die man in der Landschaft ablegen konnte – eine schöne Idee, die allerdings ziemliche Anforderungen an das Gedächtnis des Nutzers stellte, sobald es mehr als nur ein paar Dokumente waren.

Was sich die Xerox-Leute tolles ausgedacht hatten, war im übrigen alles andere als geheim. Der Computerpionier Alan Kay leitete damals das Team im PARC, das entwickelt hatte, was Jobs und die Apple-Mitarbeiter zu sehen bekamen. Key zufolge war der Xerox ALTO zu diesem Zeitpunkt bereits einigen tausend Interessierten vorgeführt worden – den Rechner und die zugehörige Software gab es seit sechs Jahren –, und jede Menge weiterer Menschen hatten Zeitschriftenartikel darüber gelesen, die wiederum jede Menge Screenshots der Desktop-Benutzeroberfläche zeigten. Und es hatte auch nicht nur einen, sondern zwei Besuche von Apple-Leuten im PARC gegeben.

Jobs hatten sie zu der zweiten Visite mitgenommen, um ihm – mit Hilfe der anschaulichen Produkte bei Xerox – zu verdeutlichen, mit welchen Problemen sie sich zu Hause bei Apple gerade herumschlugen. Steve Jobs hatte zudem die offizielle Erlaubnis, sich das PARC genauer anzusehen. Die Abteilung für Risikokapital bei Xerox hatte zu Sonderkonditionen Apple-Aktien erworben und dafür zugesichert, Einblick in das Tafelsilber von Xerox zu gewähren. Als Aktionäre hatten die Xerox-Leute nunmehr handfestes Interesse an einer positiven Unternehmensentwicklung bei Apple.

Prometheus – auf altgriechisch "Der Vordenker" – entstammte dem Göttergeschlecht der Titanen, aber man muss kein Titan sein, um einen symbolischen Tisch zu entwerfen. Gerade deshalb ist bemerkenswert, dass es eine kleine Gruppe von Menschen mit großer Vorstellungskraft war, die – und das keineswegs geradlinig oder in einem großen Wurf – die Grundlagen dafür geschaffen hat, dass heute jeder Mensch mit einem Computer umgehen kann. Als Bernhard von Chartres Ende des 10. Jahrhunderts das erste Mal den Begriff "modern" verwendete, schrieb er dazu ein Gleichnis: "Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen. Wir können weiter sehen als unsere Ahnen und in dem Maß ist unser Wissen größer als das ihre – und doch wären wir nichts, würde uns die Summe ihres Wissens nicht den Weg weisen." (bsc)