Missing Link: Der Alptraum der digitalen Demokratie - das "Betriebssystem" der 5 Sterne

Die italienische 5-Sterne-Bewegung will die totale digitale Demokratie. Doch ihr Portal "Rousseau" lässt zumindest an der Umsetzung zweifeln.

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Missing Link: Der Alptraum der digitalen Demokratie

(Bild: Hybrid Gfx/Novikov Aleksey/Shutterstock.com/heise online)

Lesezeit: 15 Min.
Von
  • Simon Koenigsdorff
Inhaltsverzeichnis

Als am 3. September die Entscheidung der italienischen 5-Sterne-Bewegung (M5S) fällt, mit dem sozialdemokratischen Partito Democratico eine Regierung zu bilden, sind alle Augen des Landes auf eine einzige Webseite gerichtet: Rousseau, die Plattform, die sich selbst das "Betriebssystem" des populistischen Movimento 5 Stelle nennt. Denn die Entscheidung, die den Bruch mit der rechtsextremen Lega von Matteo Salvini endgültig besiegelt, wird an diesem Tag nicht etwa auf einer analogen Parteiversammlung getroffen, sondern auf einer Onlineplattform, auf der die Mitglieder abstimmen können. Mehr als 79.000 von ihnen beteiligen sich an diesem digitalen Referendum, ein Rekordergebnis bei nur etwas mehr als 117.000 angemeldeten Nutzern. Fast 80 Prozent entscheiden sich für das neue Bündnis.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Erleichtertes Aufatmen auch bei Associazione Rousseau, der Organisation, die für die Plattform verantwortlich ist. Denn die Server hatten dem stundenlangen Ansturm standgehalten – im Gegensatz zu früheren Abstimmungen, bei denen die Seite regelmäßig zusammenbrach und Mitglieder darum bangen mussten, ob ihre Stimme erfolgreich abgegeben wurde. Anders als in den Jahren zuvor hatte es offenbar auch keine erfolgreichen Angriffe von außen mehr gegeben, denn seit 2017 waren mehrere Male Hacker in die Datenbank und das Content-Management-System von Rousseau und den angeschlossenen Webseiten der Partei eingedrungen.

Eine Plattform also, die für politische Entscheidungen von höchster Tragweite genutzt wird, aber Beobachtern als äußerst unsicher und intransparent gilt und sich jahrelang im Fadenkreuz der italienischen Datenschutzbehörden befand. Paolo Gerbaudo, der am Londoner King's College als Direktor des Centre for Digital Culture zu Parteien im digitalen Zeitalter forscht, spricht gar von "systematischem IT-Fehlverhalten". Im Gespräch mit heise online erklärt er: "Die gesamte Bewegung ist sehr stark von einer undurchsichtigen Kultur geprägt." Doch wie kam es dazu, dass eine Seite wie Rousseau in solch eine tragende Rolle gelangen konnte?

Dafür ist es wichtig zu verstehen, dass das Digitale schon immer fest in der DNA der 5-Sterne-Bewegung verankert war. Sie entstand aus dem Blog des Komikers Beppe Grillo, auf dem dieser Mitte der Nullerjahre begonnen hatte, seiner Empörung über die Politik des Landes Luft zu verschaffen. Auf Social Media und in den Kommentarspalten des Blogs formierte sich im Laufe der Zeit eine Bewegung, die als selbsterklärte "Nicht-Partei" begann, nach Einfluss zu streben. Bereits vor dem ersten Einzug der Cinque Stelle in das italienische Parlament im Jahr 2013 hatte es auf dem Blog schon Abstimmungen über Kandidatenlisten gegeben. Das Versprechen der Bewegung war von Anfang an auch ein Heilsversprechen: Das Netz werde die italienische Politik ersetzen, die man als korrupt und von der Bevölkerung entfremdet wahrnahm, und es werde die 5-Sterne-Bewegung als erste Massen-Internetpartei zur Umwälzung des parlamentarischen Systems tragen.

Grillos Blog hatte ihm damals der Unternehmer Gianroberto Casaleggio mit seiner Online-Marketing-Firma Casaleggio Associati eingerichtet. Seitdem ist der Name Casaleggio mit der Partei aufs Engste verwoben. Gianroberto starb 2016, und sein Sohn Davide erbte mit der Firma auch die Internetpräsenz einer Partei, die inzwischen zu einer der stärksten Kräfte der italienischen Politik herangewachsen war. Und er erbte auch die Position einer "grauen Eminenz" – denn immer noch waren die Geschicke der vollständig digital organisierten Partei stark von Casaleggio abhängig.

Die Systeme der Partei wanderten nach dem Tod des Vaters zwar in ein eigenes rechtliches Konstrukt, eine gemeinnützige Stiftung namens "Associazione Rousseau", doch ihr Präsident und Schatzmeister heißt bis heute ebenfalls Davide Casaleggio – und bis vor Kurzem residierten beide auch noch an derselben Adresse in der Mailänder Innenstadt. Finanziert wird die Organisation über Spenden sowie von den gewählten M5S-Parlamentariern, die dazu verpflichtet sind, einen Teil ihrer Diäten an Rousseau abzugeben.