Corona-Sperren bringen seismische Ruhe auf der Erde – und Forschern neue Daten

Normalerweise überdecken menschliche Aktivitäten das Geschehen im Inneren der Erde. Mehrere Wochen Lockdown könnten jetzt die Erdbeben-Forschung voranbringen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 44 Kommentare lesen
Corona-Sperren bringen seismische Ruhe auf der Erde – und Forschern neue Daten

(Bild: Andrey VP/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Tanya Basu
Inhaltsverzeichnis

Kaum hatte in diesem März der Lockdown begonnen, wurde die Welt merkwürdig still. Die Straßen in Städten leerten sich, Jogger und Familien verschwanden aus den Parks. Bauprojekte wurden eingestellt, Läden schlossen.

Ein weltweit verteiltes Netz von seismischen Monitoring-Stationen hat jetzt auch Zahlen zu dieser beispiellosen Zeit der Stille ermittelt. Ein Fachaufsatz dazu wurde in der Zeitschrift Science veröffentlicht und er zeigt, wie viel Unruhe wir normalerweise in die Umwelt einbringen. Außerdem hatten Wissenschaftler besser als je Gelegenheit, zu lauschen, was sich unter unseren Füßen ganz von selbst abspielt.

"Wir können mit Sicherheit sagen, dass es in der modernen Seismologie noch nie einen derart langen Zeitraum menschlicher Ruhe gegeben hat", sagt Raphael de Plaen an der Universidad Nacional de Mexico in Queretaro, einer von 76 Autoren des Aufsatzes. Seismisches Rauschen in Form von Vibrationen des Bodens wird oft nur mit Erdbeben in Verbindung gebracht. Aber in der Seismologie geht es auch um das Zusammenspiel von Erde und Wasser, Aufbau von Wellen und Veränderungen im Atmosphären-Druck.

Menschen sind die drittgrößte Quelle für seismisches Rauschen. Ganz normale Aktivitäten wie das Pendeln zur Arbeit werden mit Seismometern ebenso erfasst wie Stadien, in denen viele tausend Fans gleichzeitig jubeln und so die so genannten "Football-Beben" verursachen.

Unter normalen Umständen vermischt sich dieses menschliche Rauschen mit natürlicher seismischer Aktivität und überdeckt diese zum Teil. Wie stark genau unser Verhalten zum Hintergrund-Rauschen beiträgt, ließ sich bislang kaum analysieren. Für Forscher waren die Coronavirus-Sperren deshalb eine einzigartige Chance, Aktivitäten von Menschen zu isolieren und zugleich Rauschen zu beobachten, das sonst untergeht.

Mehr Infos rund um das Coronavirus

Das Team – sowohl bestehend aus Forschern als auch aus interessierten Privatleuten – arbeitete mit Daten, die von 268 Monitoring-Stationen weltweit zusammengetragen wurden. Darunter waren hochtechnisierte Geräte von Universitäten. 40 Prozent der Daten aber lieferten Raspberry Shakes – persönliche Seismographen, die von Amateuren gebaut und genutzt werden. Hinzu kamen anonymisierte Mobilitätsdaten von Google und Apple, mit denen menschliche Bewegungen erkannt wurden. Auf dieser Grundlage konnten die Forscher abgleichen, ob registrierte seismische Ereignisse von Menschen ausgingen oder natürlich waren.

Bei 69 Prozent der 268 Stationen zeigte sich eine deutliche Verringerung von hochfrequentem seismischem Umgebungsrauschen, also der Mischung aus selbst verursachtem und natürlichem Rauschen um uns herum. In China begann diese Stille Ende Januar. Mitte März erfasste sie die ganze Welt.

Die Zeiten zwischen Weihnachten und Neujahr sowie um das chinesische Neujahr herum sind normalerweise die ruhigsten, und dieses Mal war dieser Effekt noch stärker ausgeprägt. In Sri Lanka zum Beispiel verringerte sich das Rauschen um 50 Prozent, den Rekordwert in der Studie. Die Sonntage im New Yorker Central Park sind normalerweise lebhaft, aber in Lockdown-Zeiten gab es dort 10 Prozent weniger Aktivität als zuvor. Selbst Sensoren tief unter der Oberfläche bemerkten das Ausbleiben menschlicher Bewegungen: In einem deutschen Observatorium in 150 Meter tiefem Fels wurden mit Beginn der Einschränkungen weniger Vibrationen registriert.

Die Rausch-Muster ließen zudem Migrationstrends erkennen. An der Grenze zwischen Mexiko und den USA wurde laut de Plaen mehr menschliches Rauschen festgestellt, obwohl es in den beiden Ländern selbst relativ ruhig blieb. Bürger-Seismographen registrierten zudem auffällige Stille um Schulen und Universitäten herum.

Durch das verringerte Menschen-Rauschen konnten Wissenschaftler zudem genauer die Vorgänge im Inneren der Erde belauschen als je zuvor. Daraus könnten sich neue Erkenntnisse über Erdbeben ergeben, vor allem über kleinere in urbanen Zentren, die oft von menschlichen Rauschen überdeckt werden. Kleine Erdbeben sind wichtig, um Verwerfungslinien zu beobachten, und sagen oft größere Beben voraus. Die neuen Daten geben Forschern jetzt eine Basis, mit der sie arbeiten können. "Damit können wir Zusammenhänge zwischen menschlicher Aktivität und Seismologie untersuchen", sagt de Plaen, "wir können mit hoher Auflösung verstehen, wer Rauschen verursacht, Mensch oder Natur."

(sma)