Online-Empörung: Leutheusser-Schnarrenberger kritisiert "Cancel Culture"

Dass bei bestimmten Themen sofort kollektiv der moralisierende Zeigefinger erhoben wird und ein Shitstorm programmiert ist, stört die Ex-Justizministerin.

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Online-Empörung: Leutheusser-Schnarrenberger kritisiert "Cancel Culture"

(Bild: Alessandro Pintus/Shutterstock.com)

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Die neudeutsch als "Cancel Culture" bezeichnete Empörungskultur in sozialen Medien, die darauf zielt, mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten mundtot zu machen und ihre Meinungen auszulöschen, missfällt der früheren Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

"Kontroverse muss möglich sein", betonte die FDP-Politikerin am Montag bei einer Debatte der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit zur "Zukunft des politischen Diskurses" in Berlin. Wenn bei bestimmten Themen wie der Diskussion an einer Uni über das Kopftuchverbot immer "sofort der moralisierende Zeigefinger" ausgepackt werde und es einen "Shitstorm auch von Kollegen" hagele, besteht laut dem Vorstandsmitglied der Stiftung die Gefahr, dass Ansichten massiv unterdrückt werden. Viele wollten damit verhindern, "dass andere es anders intonieren".

"Je mehr in sozialen Medien zugespitzt, radikalisiert, polarisiert wird, desto eher habe ich eine Schere im Kopf", gab Leutheusser-Schnarrenberger zu bedenken. Die Sprache verrohe, "wenn man denkt, überhaupt keine Verantwortung zu haben". Die traditionellen Medien müssten es daher auch mal wagen, eine Online-Empörungswelle etwa auf Twitter oder Facebook "sich auch mal totlaufen" zu lassen. Dabei würden über Likes auch oft nur Themen hochgejazzt. Besser wäre da ein "Respekt-Button", um den Umgang im Netz miteinander zu befrieden.

Generell gehe die Meinungs- und die Medienfreiheit in Deutschland "sehr weit", konstatierte die Juristin. Auch ein zugespitzter Kommentar sei möglich, in dem scharf kritisiert und klare Kante gezeigt werde, solange niemand persönlich beleidigt oder diffamiert werde. Gefährlich sei aber "ganz gezielte Desinformation", wie sie derzeit etwa Gegner der Corona-Maßnahmen "bis hin zur QAnon-Bewegung" verbreiteten.

In unsicheren Zeiten hätten dabei gestreute Mythen und Positionen teils das Potenzial, bei Zuhörern zu verfangen. So könne der Eindruck entstehen, die da oben "nehmen unsere Interessen nicht richtig wahr". Wenn dabei das Vertrauen in staatliche Institutionen massiv beschädigt werde bis in Justiz hinein, könne das dazu beitragen, "die Säulen unserer Demokratie" zu untergraben, warnte Leutheusser-Schnarrenberger. Hierzulande sehe sie die Gesellschaft zwar nicht in einer solchen Situation. Anders gestalten könnte es sich aber etwa in den USA, wo Präsident Donald Trump Journalisten zu seinen Lieblingsgegnern erkoren habe und selbst seine "Fakes gegen Fakten" stelle.

In speziellen Fällen könne aber auch hierzulande die Zuversicht gegenüber staatlichem Handeln verloren gehen, meinte die Liberale. Wenn an einzelnen Polizeirevieren etwa Rassismus in Chatgruppen grassiere, dürften sich Betroffene dreimal überlegen, ob sie sich an die Ordnungshüter wenden sollten. Die Bürger müssten sich sicher sein, wie die Strafverfolger mit solchen Aspekten umgingen.

Manchmal müsse man "Twitter Twitter sein lassen", befand auch die Geschäftsführerin von n-tv, Tanit Koch. Wie Leutheusser-Schnarrenberger beäugte sie die "Erregungskultur in sozialen Medien" skeptisch, obwohl die Ex-Chefredakteurin der "Bild"-Zeitung selbst Erfahrungen mit dem Anstoßen öffentlicher Debatten haben dürfte.

Facebook & Co. generierten "Tastaturkrieger", die sich von zuhause aus ständig anbrüllten mit Sätzen, die sie Dritten nie direkt ins Gesicht sagen würden. Andere Meinungen würden so überhaupt nicht mehr akzeptiert. Die traditionellen Medien müssten sich so darauf konzentrieren, dass sie glaubwürdig seien. Die Unterdrücker von Pressefreiheit dürften kein so leichtes Spiel dabei haben, andere mit ihren Lügen zu faszinieren.

Social Media machten auch die Berichterstattung transparenter. Es sei etwa nicht mehr so einfach, Zitate aus dem Zusammenhang zu reißen. Journalisten würden viel mehr zur Rechenschaft verpflichtet. In den klassischen Redaktionen verspürt Koch zugleich manchmal eine "Unwucht", wie über Skandale berichtet wird. Entsprechende Entscheidungen gingen teils "an den Interessen der breiten Bevölkerung vorbei", sodass sich diese anderen Medien zuwende. Nötig sei daher eine "große Bürgerkompetenz", während "ein bisschen weniger Süffisanz" oft mehr wäre. Wer etwa Zweifel anmelde an Corona-Restriktionen, müsse dies auch öffentlich tun können, ohne gleich als Verschwörungstheoretiker abgetan zu werden.

Der langjährige Türkei-Korrespondent der "Welt"-Gruppe, Deniz Yücel, erinnerte daran, dass auch der "klassische Boulevard" von Empörungswellen lebe. Er finde diese Masche sowie die angeblich neue Cancel Culture "nervig". Andererseits fehle es aber auch manchen Institutionen an gewisser Souveränität, mit Aufregung und Kritik umzugehen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) etwa habe sich mit ihrem Hin und Her zu einem Kommentar des Kabarettisten Dieter Nuhr zur Netzkampagne "Gemeinsam #fürdasWissen" zum Deppen gemacht.

Eine ganz andere Funktion als hierzulande attestierte der Journalist, der wegen Recherchen in Kurdistan 367 Tage ohne Anklage in türkischen Gefängnissen verbrachte, sozialen Medien in autoritären Staaten. Wo die Meinungsfreiheit durch staatliche Zensur gefährdet sei, spielten soziale Netzwerke ihre Stärken als Sprachrohr der Opposition aus. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan habe Twitter daher als Plage bezeichnet. Hierzulande drohe die Informationsfreiheit derweil auch weiter eingeschränkt zu werden, wenn etwa Zeitungen keine Abonnenten mehr hätten und sich nicht über Wasser halten könnten.

(kbe)