Europa-Cloud Gaia-X tritt gegen übermächtige Konkurrenz an

Die europäische Cloud-Initiative Gaia-X steht in den Startlöchern. Trotz des Fokus auf digitale Souveränität sehen manche Experten die Marktchancen skeptisch.

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GAIA-X: Experten fordern Anwendungsintegration

(Bild: Google)

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Inhaltsverzeichnis

Für die vor allem von der deutschen und der französischen Regierung angeschobene Cloud-Initiative Gaia-X wird es bald ernst. Mitte September haben 22 Organisationen und Konzerne aus Deutschland und Frankreich – darunter Atos, BMW, Bosch, SAP und Telekom – in Brüssel eine gemeinnützige Organisation gegründet, die den Aufbau der "vertrauenswürdigen, souveränen digitalen Infrastruktur für Europa" koordinieren soll.

Gleichzeitig kündigten einige der Partner erste konkrete, Gaia-X-kompatible Produkte an. So wollen zum Beispiel die Telekom und der französische Hoster OVHcloud Anfang 2021 ein "vertrauenswürdiges Public-Cloud-Angebot für alle Branchen schaffen, in denen Datensouveränität und DSGVO-Konformität eine bedeutende Rolle spielen". Auch Plusserver und weitere Anbieter planen Gaia-X-kompatible Cloud-Dienste. Schon bald wird sich also zeigen, ob es für das von der Politik mit vorangetriebene und mit Steuergeldern geförderte Konzept auch einen Markt gibt.

Offizielles Ziel der GAIA-X-Initiative ist ein "Verbundsystem von bestehenden Cloudanbietern". Kunden sollen dank einheitlicher Open-Source-Schnittstellen schnell und günstig zwischen Cloudanbietern wechseln oder mehrere parallel nutzen können und dadurch Abhängigkeiten vermeiden. Ein maschinenlesbarer Katalog soll die Auswahl geeigneter Dienste vereinfachen. Außerdem legt die Initiative nach eigenem Bekunden besonders viel Wert auf "Datenhoheit": Anwender sollen entscheiden, wo Daten gespeichert werden und "von wem sowie zu welchem Zweck sie verarbeitet werden dürfen".

Mit dem Fokus auf Unabhängigkeit und Datenschutz trifft Gaia-X einen Nerv. Laut Umfragen des IT-Verbands Bitkom stiegen die Bedenken deutscher Unternehmen gegen Clouddienste von 2017 bis 2019 spürbar an. Vor allem die Sorge vor unberechtigtem Zugriff auf Daten treibt die Entscheider demnach um.

(Bild: Bitkom, KPMG 2020)

Das Ende des Privacy-Shield-Abkommens spielt der Initiative zusätzlich in die Hände. Das im Juli verkündete Urteil des Europäischen Gerichtshofs erhöht die Rechtsunsicherheit bei der Nutzung ausländischer Clouddienste für personenbezogene Daten noch einmal. Selbst wenn Kunden sich für die europäischen Rechenzentren von Google, Amazon oder Microsoft entscheiden, sind sie nach Auffassung der Datenschutzbehörden nicht auf der sicheren Seite. Denn laut amerikanischem Recht dürfen US-Behörden auch dann auf die Daten von EU-Bürgern zugreifen. Hinzu kommt das Horrorszenario eines Handelskrieges, in dem Donald Trump europäischen Konkurrenten einfach den Stecker zieht.

Allerdings muss man auch festhalten: Datenschutzkonforme Clouddienste von europäischen Anbietern gibt es schon lange, auch ohne Gaia-X. Trotzdem haben viele Unternehmen ihre Daten und Anwendungen lieber den amerikanischen "Hyperscalern" anvertraut.

Die drei führen nicht nur weltweit und in Europa den Cloud-Markt an, sondern auch in Deutschland. Die Telekom liegt laut der Marktforschungsfirma Synergy selbst in ihrem Heimatmarkt nur auf Rang 4.

(Bild: Synergy Research Group)

Prominente Beispiele für Kooperationen mit den Hyperscalern gibt es genug. Im Juli kündigte die Deutsche Bank an, ihre IT-Architektur zusammen mit Google neu auszurichten und künftig auf die "erstklassigen Clouddienstleistungen" der Kalifornier zu setzen. Auch die damit verbundenen Risiken thematisiert die Bank in ihrer Pressemitteilung: Beide Partner würden sicherstellen, "dass die Kundendaten und Informationen der Deutschen Bank vertraulich und integer behandelt werden sowie jederzeit verfügbar sind".

Was beruhigend klingen soll, kann man auch als Offenbarungseid lesen: Das größte deutsche Geldhaus würde seine Daten künftig nicht mehr allein kontrollieren, sondern darauf angewiesen sein, dass der Partner sich an die Regeln hält. Doch der Wettbewerb lässt den Bankern offensichtlich keine andere Wahl.

Sogar bei der "Industrie 4.0", der Vernetzung von Fabriken, spielen die US-Anbieter inzwischen vorne mit. Volkswagen setzt seine "Industrial Cloud" in Amazons Serverfarmen auf. Zunächst sollen die 122 Werke des Konzerns angeschlossen werden, langfristig auch 30.000 Standorte von Zulieferern und Partnern. Parallel baut der Autobauer seine "Automotive Cloud" für vernetzte Fahrzeuge zusammen mit Microsoft auf. Laut Volkswagen hat Datenschutz bei den Kooperationen "höchste Priorität". Man entwickle die Sicherheitssysteme kontinuierlich weiter und lasse sie extern zertifizieren.

Die Beispiele zeigen: Die Wirtschaft tickt beim Thema digitale Souveränität anders als der Staat. Sie muss sich Unabhängigkeit auch leisten können. Zwar betont das Bundeswirtschaftsministerium mittlerweile, dass Gaia-X keinen europäischen Hyperscaler bauen soll, der Microsoft, Amazon und Google weltweit die Stirn biete, was angesichts des Vorsprungs der Amerikaner ohnehin utopisch wäre. Wettbewerbsfähig müssen die Gaia-Dienste aber trotzdem sein.

Lehrreich ist die Geschichte der "Microsoft Cloud Deutschland": Von 2016 an beherbergte die Telekom als "Datentreuhänder" einen Ableger der Microsoft-Cloud in eigenen Rechenzentren. Doch das Angebot war teurer und bot weniger Funktionen als das Original. Zu wenige Kunden waren bereit, diese Kröten zu schlucken, das Angebot floppte.

Manche Experten äußern sich deshalb skeptisch über die Marktchancen der Gaia-X-Dienste. Die Initiative gehe zwar in die richtige Richtung, meint Jörg Bienert, Vorsitzender des KI-Bundesverbands und Partner bei der IT-Beratungsfirma Alexander Thamm. Es müssten dabei aber auch Angebote von großen Playern zu attraktiven Preisen entstehen. "Wir brauchen ein Leuchtturm-Rechenzentrum" betonte er im Gespräch mit c’t. "Mit PowerPoint-Folien und Open-Source-Repositories allein gewinnt man nichts."

Außerdem dürfe die Cloud-Initiative Gaia-X sich nicht allein auf Infrastruktur konzentrieren, fordert Bienert. Höherwertige Dienste wie KI-Anwendungen seien "mindestens genauso wichtig". Aus seiner Sicht sind die US-Player auch deshalb so dominant, weil sie Gesamtpakete anbieten. Kunden können nicht nur Speicherplatz und Rechenleistung mieten (Infrastructure as a Service), sondern auch Entwicklungsumgebungen und Anwendungen, etwa für Datenanalysen oder Sprach- und Bilderkennung (Platform und Software as a Service). Bei solchen Tools sei die Gefahr eines "Lock-ins" viel höher als bei reiner Infrastruktur. Sie seien häufig plattformspezifisch gestaltet, der Wechsel für Kunden deshalb relativ kompliziert und teuer.

Als aktuelles Beispiel nennt Bienert die vom kalifornischen Unternehmen OpenAI entwickelte Anwendung GPT-3. Diese könne automatisiert Texte erstellen, die von menschengeschriebenen praktisch nicht zu unterscheiden seien. Ende September erwarb Microsoft eine exklusive Lizenz für die Integration der Textmaschine in seine Azure-Cloud – andere Nutzer müssen sich mit eingeschränkten Zugängen zufriedengeben. "GPT-3 könnte bald so uneinholbar sein wie Google", warnt Bienert. Aus seiner Sicht sollte die EU versuchen, eine Alternative aufzubauen.

Auch der Deutschland-Chef der Unternehmensberatung Accenture, Frank Riemensperger, betont die Bedeutung der Zusatzdienste. Die großen amerikanischen Anbieter investierten massiv in den Ausbau von Big Data und KI, aber auch Quantencomputing aus der Cloud. "Jedes Unternehmen, das diese Milliardeninvestitionen nicht zum eigenen Vorteil hebelt, schneidet sich von den rapiden Innovationszyklen der Digitalisierungsindustrie ab", mahnt er.

Riemensperger vermutet, dass schon in sechs Jahren "nahezu 50 Prozent der deutschen Unternehmens-IT" in den Clouds der amerikanischen Hyperscaler laufen könnte. Der Spagat zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Souveränität dürfte also weitergehen.

Dieser Artikel stammt aus c't 22/2020. (cwo)