Arbeit, Forschung, Gesellschaft: Welche Fortschritte die Pandemie uns bringt

2020 werden die meisten Menschen wohl am liebsten schnell wieder vergessen wollen. Aber mit Covid-19 kamen einige Neuerungen, die bleiben sollten.

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Mit digitaler Technik im Lockdown.

(Bild: Photo by Elena Mozhvilo on Unsplash)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Abby Ohlheiser
  • Tanya Basu
Inhaltsverzeichnis

Das Jahr 2020 war schlimm – darüber sind sich wohl alle einig. Trotzdem kann man in der Rückschau einige unerwartete Lichtblicke erkennen, insbesondere bei der Kommunikation und der Digitalisierung.

Keiner dieser Vorteile lässt sich mit dem Tod, dem Leid und dem Elend eines schrecklichen Jahres vergleichen. Einige kleine Fortschritte aber hat es in diesem Umfeld gegeben, und es steht zu hoffen, dass sie im neuen Jahr erhalten und ausgebaut werden. Sie betreffen gesellschaftliche Veränderungen ebenso wie Forschung und Arbeitswelt.

Zoom-Müdigkeit ist ein reales Phänomen, aber man sollte Online-Arbeit nicht nur als vorübergehenden Ersatz für das Büro ansehen. Viele Behindertenverbände haben Arbeitgeber seit Jahren aufgefordert, Telearbeit als Option für Jobs anzubieten, die sich dafür eignen. Die Pandemie hat bewiesen, dass es für manche Leute wirklich besser ist, von zuhause aus zu arbeiten, und dass die dann nicht weniger produktiv sind.

„Wenn Ihre Beschäftigten zuhause arbeiten können und wollen, dann lassen Sie sie“, sagt Vilissa Thompson, die sich als Gründerin von "Ramp Your Voice" für Behinderte einsetzt. Für manche mag Arbeit im Home Office eine Belastung sein. Andere aber finden sie einfacher und bequemer, etwa aus gesundheitlichen, familiären oder sozialen Gründen. Thompson fürchtet, dass Unternehmen zu sehr darauf aus sein werden, jeden zurück ins Büro zu holen, wenn genügend Impfstoffe vorhanden sind. „Man kann jetzt nicht mehr sagen, dass bestimmte Sachen im Homeoffice nicht funktionieren“, erklärt sie, „man hat gesehen, dass es funktioniert.“

Nach ihren Worten gilt das auch für Universitäten und berufliche Zusammenkünfte. Studenten hätten ihre Hochschulen nach Optionen für Online-Vorlesungen gefragt und wüssten jetzt, dass sie möglich sind. Auch virtuelle Konferenzen sind in vielerlei Hinsicht leichter zugänglich, nicht zuletzt finanziell: niedrigere Preise, keine Hotelkosten, keine Reisen.

Früher wurden Videos nur sehr selten mit Untertiteln versehen. YouTube bietet eine automatische Option dafür, aber das Ergebnis war häufig unsinnig. Wenn noch Masken und Video-Chat hinzukamen, war es für schwerhörige oder taube Menschen fast unmöglich, ihre Kollegen zu verstehen. Durch die Pandemie wurde der Bedarf an Live-Untertiteln dringlicher, und Start-ups wie Ava sowie größere Plattformen wie Zoom und Microsoft entwickelten entsprechende Funktionen; oft sind die Untertitel editierbar, damit sie besser verständlich werden.

Am wichtigsten aber: Instagram und andere Sozial-Plattformen führten Untertitel ein, um Menschen mit Gehörproblemen die Chance zu geben, dort zu findende Videos zu verstehen. Von archivier- und durchsuchbaren Texten profitieren zudem auch andere. Gelöst ist das Problem allerdings noch nicht. Es habe große Fortschritte gegeben, vor allem bei Live-Videos aber bleibe noch viel zu tun, sagt Thibault Duchemin, Gründer von Ava: „Bei Fernseh-Sendungen werden die Untertitel von Profis erstellt – warum sollte das beim Livestream eines wichtigen Ereignisses in sozialen Medien nicht auch so sein?“

Eine der Autorinnen dieses Beitrags hat zum letzten Mal vor einigen Wochen wirklich Freude empfunden: beim Spielen von "Among Us" mit einer Gruppe zufälliger Fremder im Internet. Among Us hat Ähnlichkeit mit Brettspielen wie "Mafia", läuft aber online. Entweder ist man Team-Mitglied oder Verräter, und niemand weiß es. Mitglieder erledigen Aufgaben, Verräter töten sie. Gewinnen kann man, indem man Aufgaben löst oder alle Verräter aufdeckt und rauswirft, bevor es zu viele werden. Für unser Spiel haben wir die Einstellungen so gewählt, dass maximales Chaos garantiert war: drei Verräter, was sehr viel ist, für jede Person im Team eine Aufgabe. Es ging ziemlich rund zu und so lustig, als wäre man draußen mit seinen Freunden.

Video-Spiele waren schon vor der Pandemie ein riesiges Geschäft. Also kann man natürlich Spaß in einem Online-Spiel haben. Aber das Coronavirus hat viele dazu gebracht, das herauszufinden und zu entdecken, wie man an virtuellen Orten Kontakt mit Freunden und Fremden aufnehmen kann. Menschen verarbeiteten ihr Leid in "Animal Crossing", veranstalteten Party-Abende mit Jackbox oder hatten Spaß mit Among Us. Wenn solche Momente Teil des Lebens vieler Menschen blieben, wäre das schön.

Noch 2019 stand die Wisch-Kultur in voller Blüte. Doch die Pandemie machte aus One-Night-Stands eine ferne Erinnerung und brachte die Singles dieser Welt in ein Dilemma. Sie mussten ihre Kontakte ganz ins Internet verlegen und neu über Dating nachdenken. Mit einfachen Google-Tabellen wurden spontane Partnersuch-Dienste eingerichtet, Video-Dating breitete sich aus, und die Verkäufe von Sexspielzeugen nahmen stark zu. Natürlich ist nichts besser, als einen Menschen persönlich kennenzulernen und im echten Leben zu prüfen, ob die Chemie stimmt. Und so endeten Romanzen, die mit einer idealisierten Version der Beteiligten im Internet begonnen hatten, nach den Lockdown-Lockerungen oft in einer Enttäuschung.

Zwar konnte man in den USA und anderswo schon lange vor der Pandemie auch per Brief abstimmen. Doch bei der Präsidentschaftswahl 2020 wurden die Möglichkeiten dafür ausgeweitet, und viele Amerikaner nutzten sie.

Indirekt wurde die US-Wahl dadurch zu einer der sichersten, die es je gab: „Die Wahl so zu organisieren, dass eine Woche oder sogar ein Monat Zeit bleibt, bedeutet, dass egal welches Problem deutlich weniger gravierend wird – ob es um technische Probleme geht oder um einen böswilligen Angriff“, schrieb unser Kollege Patrick Howell O'Neill im Dezember 2020.

Wie sich herausstellte, wussten die meisten Leute gar nicht, wie man richtig die Hände wäscht. Als in den frühen Tagen der Pandemie noch nicht viel über die Verbreitung des Virus bekannt war, rieten Organisationen wie das CDC zu 20 Sekunden gründlichem und kräftigem Händewaschen. So entstanden zahllose neue Memes, und in den dunkelsten Monaten des Jahres sangen manche Menschen zweimal das Lied „Happy Birthday“ vor sich hin, um die Hände in dieser Zeit sauber genug zu machen.

Wissen Sie noch, wie wir früher Stangen in der U-Bahn oder Einkaufswagen angefasst und dann unser Gesicht berührt haben, ohne auch nur darüber nachzudenken? Damit dürfte es jetzt vorbei sein.

Der Verzicht auf Zug- oder Auto-Fahrten hatte spürbare Vorteile für die Umwelt. Im April 2020 nahmen die CO2-Emissionen um 17 Prozent ab. In früher verschmutzten Städten in China und Indien ließ der Smog nach. Laut Experten war der Effekt der Gleiche, als hätte man 192.000 Autos aus dem Verkehr gezogen. Außerdem sorgte die Stille auf der Erde dafür, dass Wissenschaftler leichte seismische Verschiebungen belauschen konnten, für die es früher zu laut gewesen wäre, berichtete die Fachzeitschrift "Science" im Juli. Eine leisere und weniger schmutzige Welt bedeutet nicht, dass wir keine Angst mehr vor Klimawandel zu haben bräuchten – und die genannten Veränderungen werden sicher nicht anhalten, wenn die Pandemie endet. Aber die Erfahrung zeigt, was sich mit drastischen Maßnahmen beim Klima erreichen lässt.

Vor der Pandemie nahmen 30-40 Prozent der Familien in den USA mindestens eine Mahlzeit am Tag zusammen ein, hat Anne Fishel ermittelt, Psychologie-Professorin an der Harvard University und Mitgründerin des Family Dinner Project. Doch Ausgangsbeschränkungen, Schließungen und Arbeit oder Schule von zuhause aus sorgten dafür, dass gemeinsames Essen wieder häufiger wurde. „70 Prozent der Familien kochen mehr, 60 Prozent bereiten Mahlzeiten komplett selbst zu, 50 Prozent beteiligen ihre Kinder daran, und insgesamt gibt es 55 Prozent mehr Familienessen“, zitiert Fishel Zahlen der kanadischen Guelph University.

Am selben Tisch und zur selben Zeit zu essen wie der Rest des eigenen Haushalts, mag sich nach kaum mehr als einer netten Tradition anhören. Fishel aber sieht wertvolle Aspekte darin. „In Familien, die regelmäßig zusammen zu Abend essen, gibt es seltener Substanz-Missbrauch, Ess- und Angst-Störungen sowie Depressionen“, erklärt sie. Außerdem nehme die Resilienz und das Selbstvertrauen zu. Gerade das dürfte fast jeder gut gebrauchen können, während wir mit der nächsten Coronavirus-Welle das neue Jahr beginnen.

(sma)