EU-Stromnetz: Umspannanlage in Kroatien verursachte beinahe Blackout

Ein Frequenzabfall, der das europäische Stromnetz Anfang Januar an seine Grenzen gebracht hat, ging laut Betreibern von einem Überstromschutz aus.

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(Bild: pan demin/Shutterstock.com)

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Eine Kaskade von Ausfällen von Betriebsmitteln wie Stromleitungen und Schaltanlagen in Südosteuropa führte am 8. Januar zu massiven Problemen im europäischen Stromnetz. Dies erklärte der Verband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E in einem Zwischenbericht zur Untersuchung der Vorfälle am Dienstag. Auslöser des Beinahe-Blackouts in weiten Teilen Europas war demnach eine Umspannanlage im kroatischen Ernestinovo.

In dem Werk sprach laut den ersten Ermittlungen um 14:04 ein Überstromschutz bei einem 400-Kilovolt-Sammelschienenkuppler an, sodass sich dieser automatisch abschaltete. Umspannanlagen sind Knotenpunkte im Stromnetz. An ihnen können mehrere Höchstspannungsleitungen zusammentreffen. Der Strom wird dabei auf kurzen, anlageninternen Höchstspannungsleitungen zusammengeführt, den Sammelschienen.

Diese Instrumente lassen sich mit einer Mehrfachsteckerleiste vergleichen. Sie verbinden verschiedene Schaltfelder miteinander. Die meisten Umspannwerke enthalten mehrere Sammelschienen. So können Stromkreise oder Transformatoren bedarfsgerecht flexibel in getrennten Gruppen zusammengeschaltet und die Leistungsflüsse im Netz besser gesteuert werden.

Das automatische Öffnen einer Kupplung zwischen den beiden Sammelschienen in Ernestinovo trennte diese. Damit wurden auch zwei Höchstspannungsverbindungen unterbrochen, die Strom vom Balkan in andere Teile Europas führen. Dies betraf in nordwestlicher Richtung die Leitungen nach Žerjavinec (Kroatien) und Pecs (Ungarn). In südöstlicher Richtung ging auf den Verbindungen nach Ugljevik (Bosnien-Herzegowina) und Sremska Mitrovica (Serbien) nichts mehr.

In der Folge suchte sich der Strom neue Wege. Umliegende Leitungen waren durch den zusätzlichen Transport jedoch überlastet. Zunächst schaltete sich die Verbindung Subotica – Novi Sad (Serbien) ebenfalls durch den Überstromschutz ab. Danach fielen im Umkreis mehrere Leitungen aufgrund des Distanzschutzes aus. Ergebnis war, dass sich das europäische Stromnetz innerhalb von weniger als 50 Sekunden in zwei Gebiete aufteilte: den Nordwesten, dem 6,3 GW Erzeugungsleistung fehlte, und den Südosten, in dem ein entsprechender Überschuss bestand.

Um 14:05 Uhr fiel die Frequenz im nordwestlichen Netzteil so zunächst auf 49,74 Hertz (Hz). Nach rund 15 Sekunden stabilisierte sie sich bei 49,84 Hz, was noch innerhalb des zulässigen Bandes für Abweichungen von Plusminus 0,2 Hz liegt. Gleichzeitig sprang die Frequenz im südöstlichen Bereich auf 50,6 Hertz, bevor sie sich bei einem Wert zwischen 50,2 und 50,3 Hz stabilisierte. Normalerweise wird das europäische Hochspannungsstromnetz auf 50 Hz synchronisiert. Abweichungen und Abtrennungen können zu Stromausfällen in Teilnetzen führen.

Tatsächlich gab es nach dem Vorfall im Bereich der kritischen Infrastruktur Berichte, wonach es zumindest in Teilen Rumäniens zu lokalen Blackouts kam. Lampen in Haushalten und auf den Straßen sowie elektrische Geräte sollen auch in anderen Bereichen vor allem in Südosteuropa an- und ausgegangen sein. Der österreichische Übertragungsnetzbetreiber APG verwies darauf, dass die Frequenzstörung "das europäische Stromnetz an seine Grenzen gebracht hat".

Angesichts der Unterfrequenz gingen dem Bericht zufolge im nordwestlichen Teilnetz "vertraglich gesicherte Kapazitäten" in Form von Industrieverbrauchern mit einer Leistung von 1,7 GW in Frankreich und Italien vom Netz. Diese hatten zuvor mit den zuständigen Übertragungsnetzbetreibern einschlägige Verträge zum Stützen des Netzes abgeschlossen. Zusätzlich wurden 420 MW unterstützende Leistung aus dem skandinavischen und 60 MW aus dem britischen Synchrongebiet automatisiert eingespeist.

Im südöstlichen Teil des Netzes wurden aufgrund der erhöhten Frequenz ebenfalls automatische und manuelle Gegenmaßnahmen aktiviert, um den Leistungsüberschuss zu reduzieren. So ging etwa eine Erzeugungsanlage mit einer Leistung von 975 MW in der Türkei noch um 14:04 Uhr automatisch vom Netz. Die weiteren Frequenzschwankungen zwischen 14:30 und 15:06 Uhr sollen daran gelegen haben, dass das südöstliche Teilnetz vergleichsweise klein gewesen sei und einige Kraftwerke abgetrennt worden seien. Diese Abweichungen will ENTSO-E noch genauer untersuchen.

Das Gegensteuern sorgte dem Verband zufolge dafür, dass der Normalbetrieb im Netz bald wiederhergestellt werden konnte. Der deutsche Versorger Amprion koordinierte nach eigenen Angaben im Rahmen der Frequenzüberwachung für Kontinentaleuropa das gemeinsame Vorgehen. Um 14:47 Uhr und 14:48 Uhr konnten demnach die Industrieanlagen in Italien und Frankreich wieder ans Netz gehen. Um 15:07 Uhr synchronisierten die Netzbetreiber die beiden Teilnetze wieder.

Auf Basis der vorläufigen Ergebnisse soll eine Expertenkommission nun die Ereignisse entsprechend der gesetzlichen Vorgaben vollständig aufklären. Christian Rehtanz, Leiter des Instituts für Energiesysteme an der TU Dortmund, wertete den Vorfall als "sehr großes Störereignis für die gesamte Netzstruktur" mit weiterem Analysebedarf. Die Möglichkeit einer überstrombedingten Sammelschienentrennung hätte ihm zufolge "entweder in den betrieblichen Planungen berücksichtigt werden müssen, sodass ein derartiges Ereignis nicht zu Folgeauslösungen geführt hätte, oder eine derartige Überstromschutzfunktion hätte an dieser Stelle nicht aktiv sein dürfen".

Für Rehtanz sind noch viele Fragen offen. Der Überstromschutz für die Sammelschienenkupplung scheint ihm eine lokale Besonderheit zu sein, "die nicht bei der überregionalen Betriebsplanung berücksichtigt wurde". Die gleichzeitige Trennung von mehreren Leitungen sei in diesem Bereich "insgesamt unüblich". Es müsse geklärt werden, ob ein Kurzschluss, ein sonstiger Fehler oder eine ungünstige Netzsituation vorgelegen habe. Eigentlich ist bei Umschaltungen von Höchstspannungsleitungen vorab zu prüfen, ob sie sicher sind. Wenn ein Betriebsmittel ausfällt, sollte der Stromfluss bei Höchstlast weiter gewährleistet sein.

Das Netzgebiet war in Mitteleuropa zuvor zuletzt am 4. November 2006 aufgetrennt worden. E.ON hatte damals eine Stromleitung über der Ems abgeschaltet, um ein großes Schiff passieren zu lassen. In diesem Fall waren die ebenfalls durch eine Kettenreaktion verursachten Auswirkungen deutlich gravierender als Anfang Januar: Der Stromausfall ließ Millionen Haushalte in Europa im Dunkeln sitzen. Erst nach Tagen konnten die Probleme behoben werden. Die großen Betreiber verabredeten daraufhin neue, umfassendere Sicherungssysteme.

(mho)