Merkel: "Brauchen dringend Prognose für den Strombedarf bis 2030"

Die Bundeskanzlerin hat auf dem Tag der Industrie eingeräumt, dass etwa die E-Mobilität und das Internet der Dinge mehr Windenergie und Leitungsbau erforderten.

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(Bild: PHOTOCREO Michal Bednarek/Shutterstock.com)

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Offizielle Ansage des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) ist es, dass die Nachfrage nach Strom in Deutschland bis 2030 konstant bleibt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diese These nun mit einem Fragezeichen versehen. "Wir brauchen dringend eine Prognose für den Strombedarf bis 2030", forderte die CDU-Politikerin am Dienstag auf dem Tag der Industrie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in Berlin.

Zu berücksichtigen sei bei der Neuberechnung etwa, was die E-Mobilität und das Internet der Dinge mit viel größeren Rechen- und Serverleistungen mit sich brächten, erklärte Merkel. Nötig sei "mehr Leitungsbau", der auch schneller gehen müsse. Geklärt werden sollte zudem, welche Quellen für den Strom dann verfügbar seien. Derzeit gebe es "erhebliche Schwierigkeiten, Windenergie an Land durchzusetzen". Hier seien offenbar mehr Offshore-Anlagen erforderlich. Gas als Brückentechnologie einzusetzen, bleibe zugleich "von entscheidender Bedeutung".

Mitte Juli werde die EU-Kommission ein neues Klimapaket auf den Weg bringen, gab die Kanzlerin zu bedenken. Dabei gehe es auch um neue Normen für Autos und die "Zukunft der Chemie". Die Bundesregierung habe wenige Monate vor der Bundestagswahl noch versucht, dazu eine "konsistente Position zu entwickeln". Deutschland sollte beim Klimaschutz zudem auf "gleichgesinnte Staaten auf der Welt" setzen mit gleichen Instrumenten etwa über eine neue transatlantische Wirtschaftsinitiative. Auch mit China sei der Dialog hier aber aufrechtzuerhalten.

"Wir werden in den nächsten Jahren gigantische Summen ausgeben müssen", prognostizierte Merkel in Bezug auf Staat und Wirtschaft. Das gelte etwa für die Mikrochip-Produktion, wo in Europa derzeit 40 Prozent teurer als in Asien produziert werde. Als weitere Bereiche nannte sie die Batteriezellfertigung, Wasserstoff, die Quantentechnologie, Künstliche Intelligenz (KI) und Cloud-Computing. Ohne "wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse" (IPCEI) als Förderdach werde es in diesen Bereichen kaum gehen. Hierzulande sei es auch nicht so einfach gewesen, für den Bau eines Quantencomputers ein industrielles Konsortium zu finden. Nötig seien "Formen der Zusammenarbeit, die es in dieser Dimension in den vergangenen Jahren nicht gab".

Vizekanzler Olaf Scholz warf dem BMWi eine "Stromlüge" vor. E-Autos, Wärmepumpen und industrielle Prozesse benötigten "sehr viel mehr Elektrizität". Die Industrie wolle "klimaneutral produzieren, aber dafür braucht sie Strom aus Wind und Sonne". Nötig seien voraussichtlich 100 Terawattstunden (TWh) Strom zusätzlich bis 2030. Damit wachse der Verbrauch jährlich um die Menge, die eine Stadt wie Hamburg derzeit pro anno in Anspruch nehme. Die aktuellen Planungen stimmten so "weder für die Stromerzeugung noch für den Leitungsbau".

Der SPD-Kanzlerkandidat bezeichnete den Ausbau von Wind- und Ökostrom als "wichtigste industriepolitische Aufgabe unserer Zeit" an. Er kündigte eine rasche und umfassende Reform des Gesetzes für die erneuerbaren Energien (EEG) an, wobei er die Ausbauziele erhöhen und die EEG-Umlage bis 2025 abschaffen wolle. "Das sind 25 Milliarden Euro", veranschaulichte der Finanzminister das damit verknüpfte Einnahmeminus. Diese müssten etwa über den CO2-Preis und andere Mittel ausgeglichen werden. Sein Ziel sei es zudem, den Industriestrompreis von derzeit rund 17 Cent pro Kilowattstunde (kWh) auf vier Cent zu senken. Die Große Koalition hat bereits beschlossen, die EEG-Umlage für 2023 und 2024 auf höchstens noch 5 Cent pro KWh zu begrenzen.

"Wir haben ein riesiges Infrastrukturproblem", gab Scholz zudem zu. Es müsse noch entschieden werden, mit "welcher IT, welchen Clouds wir arbeiten" und "ob wir das überhaupt können in Europa". Auch für die Ladeinfrastruktur am Straßenrand gebe es noch kein tragfähiges Geschäftsmodell. Deutschland solle zum Leitmarkt für Elektrolyse machen, sodass auch die Wasserstoffziele angepasst werden müssten.

Wer im internationalen Rennen einen klimaneutralen Markt als erstes "voll und ganz erreicht, wird auch gesellschafts- und wirtschaftspolitisch die Nase vorn haben", betonte die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock. Deutschland habe "eigentlich die Energiewende erfunden", jetzt preschten aber etwa auch die USA und China vor. Es gehe hier nicht mehr nur um wirtschaftliche Vorteile, sondern auch um einen Wettstreit "zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimen" sowie die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaats Deutschland.

Das Design für die Märkte für Energie und Wasserstoff sowie für die Digitalisierung sei derzeit zu eng, eine Bleiweste schnüre die Unternehmer ein, monierte die Grünen-Chefin. KI, Mikrochips und Batterietechnologien seien kritische Produkte, die in Deutschland und Europa hergestellt werden müssten. Die Grünen hätten daher einen Pakt zwischen Industrie und Politik vorgeschlagen, um Standards zu setzen und den Transformationspfad zu unterstützen. Der Staat müsse dabei aber auch die Linie vorgeben und etwa entscheiden, dass Wasserstoff nicht in Pkws könne, da die Kapazitäten begrenzt seien. Hier sollten etwa die Stahlerzeugung und der Luftverkehr Vorrang haben.

Die Gesellschaft habe sich zu sehr "an die Methode Corona gewöhnt", beklagte der Kanzlerkandidat von CDU und CSU, Armin Laschet. Alles sei während der Pandemie bis ins Detail geregelt worden von der Pflicht zum Homeoffice bis zum Maskentragen. Nun brauche es "Entfesselungspakete", um die Bürokratie wegzunehmen. Dies gelte auch für die Infrastruktur etwa bei der Bahn, die deutlich schneller werden und ausgebaut werden müsse. Die Verwaltung müsse dringend digitalisiert werden, wozu die Kompetenzen in der Bundesregierung gebündelt werden sollten. Bei den Bürgern sei aber auch die Bereitschaft nötig, "die digitale Identität anzuerkennen und Daten preiszugeben".

"Wir haben zu viele Grauzonen beim Datenschutz", das rechtlich und technisch Machbare sei oft unklar, kritisierte die Chefin von Microsoft Deutschland, Marianne Janik. Insgesamt gebe es im Digitalbereich genügend und wichtige Initiativen wie das europäische Cloud-Projekt Gaia-X, dieses müssten nun aber auch umgesetzt werden. Zugleich übte sie Selbstkritik: "Wir haben uns erfreut an proprietären Systemen, aber die Zukunft heißt auch schon Open Source zum Teil."

Was den Strombedarf angehe, wandle die aktuelle Bundesregierung auf einem Traumpfad, bestätigte BASF-Chef Martin Brudermüller. Die neue müsse schnell auf den Ausbau der Erneuerbarer etwa in der Nordsee setzen. Das EEG habe "klasse Arbeit geleistet", sei nun aber eine Innovationsbremse. Der Staat müsse bei Infrastrukturen wie Stromtassen und 5G in Vorlage gehen.

Die Standortbedingungen beim Infrastrukturlauf und Ökostromausbau "halten nicht mit", konstatierte auch die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller. Anders als Baerbock erachtete sie aber eine "ambitionierte E-Fuels-Strategie" für die verbleibenden Verbrenner für wichtig. Bei Windkraftlagern laufe nichts ohne Spezialstahl, ergänzte der Chef des Ausrüsters Schaeffler, Klaus Rosenfeld. Werde dieser teurer, "wird Ausbau der Windkraft nicht mehr funktionieren". .

(mho)