Fahrbericht Elektroauto Kia EV6: Hyundais nächster Schnelllader

Der Kia EV6 basiert auf der gleichen Plattform wie der Hyundai Ioniq 5. Beide können herausragend flink laden. Wie schlägt sich der EV6 im ersten Fahrbericht?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 244 Kommentare lesen
Kia EV6

(Bild: Kia)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Jürgen Wolff
Inhaltsverzeichnis

Der Hyundai-Konzern folgt dem vielfach erprobten Erfolgsrezept, gleiche Plattformen in verschiedenen Verpackungen anzubieten. Für Elektroautos heißt die technische Basis E-GMP, und Hyundai verteilt sie auf drei Marken. Der Ioniq 5 ist schon im Handel, der Kia EV6 folgt ebenso wie Modelle von dem zur Nobelmarke erhobenen Ableger Genesis. Dabei werden naheliegenderweise unterschiedliche Geschmäcker und Ansprüche bedient. Der Ioniq 5 polarisiert stärker als der rundliche Kia EV6. Letzterer stand uns für eine erste Ausfahrt zur Verfügung.

Wer auf den Startknopf drückt, der denkt er sitzt im Wald. Von allen Seiten klingt Vogelgezwitscher, eine sanfte Brise lässt Blätter rascheln. Der Kia EV6 sorgt für Hintergrundgeräusche nach Wahl und Stimmung: Meeresrauschen, Regenprasseln, Kneipengemurmel, knirschende Stiefel im Schnee. Was sagt ausgerechnet das jetzt über die Qualität eines Elektromobils aus? Durchaus etwas, denn es verrät, mit wie viel Fantasie sich seine Entwickler ans Werk gemacht haben.

Dabei ist das Start-Gemurmel natürlich nur ein winziges Detail. Plakativ preist der Konzern die überdurchschnittlichen Ladefähigkeiten an, was hier kein leeres Marketinggeschwätz ist. Im Testwagen war die größere von zwei Batterien eingebaut, die einen Energiegehalt von 77,4 kWh zu bieten hat. Im WLTP soll das für bis zu 528 km genügen. Dank 800 Volt Betriebsspannung ist die Ladeleistung hoch, ohne bei der Stromstärke ins Extreme zu tendieren. Umgestellt nach P(Leistung)=U(Spannung) x I(Stromstärke) bedeutet in diesem Fall, dass maximal 281,25 Ampere fließen. Für die gleiche Ladeleistung von 225 kW müssten bei einer 400 Volt-Architektur demnach 561,5 Ampere verarbeitet werden.

Mit solchen Ladeleistungen sinkt die Dauer der Zwangspausen auf langen Strecken natürlich enorm. Stundenlang warten, um wieder Strom für ein paar Hundert Kilometer in die Batterie zu bekommen? Das war einmal, zumindest, wenn die Bedingungen so ideal sind wie bei dieser ersten Ausfahrt und die Infrastruktur das hergibt. Mit 28 Prozent SoC haben wir einen EV6 mit 77,4-kWh-Batterie im spanischen Hinterland an eine Schnellladesäule angeschlossen. Rund 17 Minuten später zeigte die Säule 87 Prozent an. Genug Strom für 100 Kilometer ist laut Kia schon nach vier Minuten gebunkert.

Für diese Proberunde wählten wir das Model mit 168 kW und Heckantrieb. Trotz eines Leergewichts von mehr als zwei Tonnen sind die Fahrleistungen ausgezeichnet und sehr viel flotter, als es die 7,3 Sekunden signalisieren, die Kia im Standardsprint verspricht. Vor allem aber steht das volle Beschleunigungsvermögen jederzeit sofort bereit. Schon eine leichte Bewegung des Fußes Richtung Fahrpedal genügt, um praktisch fast alle Anforderungen im normalen Straßenverkehr souverän abzuarbeiten. Schluss ist erst bei 185 km/h.

Kia EV6 Fahrbericht (12 Bilder)

Der Kia EV6 tritt äußerlich etwas weniger  ...

"Souverän" ist auch das Fahrverhalten des EV6. Seitenneigung ist auch in flott durchfahrenen Kurven kein Thema, dem tiefen Schwerpunkt mit den gewichtigen Akkus sei Dank. Um die Ecken zieht er präzise und agil, beim Herausbeschleunigen ist er sofort da. Ein bisschen wird der positive Eindruck nur durch die gelegentlich etwas poltrige Federung getrübt. Die Lenkung liefert ausreichend Rückmeldungen von der Straße, könnte aber ein wenig präziser sein.

Mit der Ausrichtung auf den Elektroantrieb verschieben sich Proportionen. Schließlich nehmen in einem Elektroauto die Antriebskomponenten viel weniger Platz ein. Im Kia EV6 misst der Radstand 2,9 m, also etwa so viel wie in einer aktuellen Mercedes E-Klasse. Mit insgesamt 4,68 m ist er aber ein paar Zentimeter kürzer als eine C-Klasse. Das Platzangebot des EV6 ist dementsprechend großzügig. Trotz der Coupé-Linie ist auch die Kopffreiheit selbst für große Menschen ausreichend bemessen. Die bequemen Sitze lassen sich weit verstellen. Der Kofferraum fasst 520 Liter.

Am Armaturenbrett gibt es kaum noch Knöpfe zur direkten Steuerung von Funktionen. Dennoch gelingt die Bedienung der wichtigsten Funktionen relativ problemlos und weitgehend intuitiv. Das heißt allerdings nicht, dass Kia in dieser Zone nichts mehr zu tun hätte: Das Navigationssystem erscheint in dieser Form noch nicht ausgereift. Ansagen kommen zu spät, führen immer wieder mal in die Irre und die optische Streckenanzeige selbst ist eher kümmerlich.

Bemerkenswert ist die Zahl und Qualität der Assistenzsysteme, die Kia dem EV6 mit auf den Weg gegeben hat. So findet der Wagen selbstständig Parklücken und parkt automatisch ein, auf Wunsch auch, ohne dass man im Auto sitzt. Der Notbremsassistent stoppt rechtzeitig vor Hindernissen, ein energischer aktiver Spurhalteassistent ist bestellbar. Das Rekuprationssystem kann aus Navigationsdaten und Verkehrsgeschehen die optimale Verzögerung berechnen, was in der Praxis mit einer erstaunlich hohen Trefferquote gelingt.

Mit mindestens 44.990 Euro ist der Kia EV6 kein Schnäppchen, andererseits ist die Basisausstattung schon recht umfangreich. Wünsche, die diese Linie nicht erfüllt, werden allerdings durch die Preispolitik rasch enorm teuer. Extras sind nur in Paketen zu haben, die insgesamt zwar durchaus fair kalkuliert sind, doch wer beispielsweise das Schiebedach haben möchte, muss gleich ein paar Tausend Euro drauflegen. Immerhin lässt es sich im EV6 auch öffnen, anders als im Ioniq 5. Hier leistet sich der Konzern also durchaus Unterschiede. Erstaunlicherweise gibt es diese genau in diesem Bereich auch beim Konkurrenten Volkswagen.

Kia dürfte gute Chancen haben, mit dem EV6 den Geschmack vieler Kunden zu treffen. Der starke Antrieb im Verbund mit der flotten Lademöglichkeit zeigt den aktuellen Stand der Technik, dem derzeit kaum ein Konkurrent Vergleichbares entgegenzusetzen hat. Platzangebot und Verarbeitung sind ausgezeichnet, der Komfort hoch. Nachbessern muss Kia beim Navigationssystem. Die Preise sind ein selbstbewusstes Statement. Kia kann sich das leisten, weil das Auto derart konkurrenzfähig ist. Doch mit Wünschen, die im Basismodell nicht inklusive sind, wird der EV6 sehr schnell erheblich teurer.

(mfz)