EU-Grenzkontrolle: "Erhebliche Verzögerungen" beim Ein-/Ausreisesystem

Die IT-Agentur EU-Lisa warnt vor einem "großen Risiko", dass das Kernsystem für die biometrische Grenzkontrolle nicht planmäßig im Mai 2022 starten kann.

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(Bild: Bignai/Shutterstock.com)

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Die Arbeiten am neuen Ein-/Ausreisesystem der EU (EES), mit dem eine umfassende biometrische Grenzkontrolle für Angehörige von Drittstaaten eingeführt werden soll, leiden unter massiven technischen und organisatorischen Problemen. Die europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Sicherheitsbereich, EU-Lisa, verweist auf "erhebliche Verzögerungen" bei der Entwicklung der geplanten vernetzten Datenbank. Es bestehe ein "großes Risiko", dass das EES im Mai 2022 nicht seinen Betrieb aufnehmen könne, wie es eigentlich geplant war.

Der Start müsse vermutlich zumindest bis auf einen Zeitpunkt "nach dem Sommer" nächsten Jahres verschoben werden, drückt sich das Management von EU-Lisa vage aus. In den vergangenen Monaten seien die Behörde und die Mitgliedsstaaten mit einer "wachsenden Zahl an Schwierigkeiten mit der Implementierung des Systems" konfrontiert worden, heißt es in einem vertraulichen Schreiben der Agentur an den slowenischen Innenminister Aleš Hojs, das die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch veröffentlicht hat. Die Regierung des Alpenlands hat momentan die Präsidentschaft des EU-Rats inne.

Für die Rückstände macht EU-Lisa vor allem die Vertragspartner verantwortlich, die den Zuschlag für das mehrere hundert Millionen Euro schwere IT-Großprojekt erhalten haben. Dabei handelt es sich um zwei Konsortien: einmal den Ecos-Verbund, dem die Firmen Cancom, Everis (NTT Data Group), die griechische Telekommunikationsfirma OTE sowie Sopra Steria angehören. Beteiligt ist ferner der ANTTIS-Zusammenschluss von Atos und NTT.

Auch "eine Reihe von Mitgliedstaaten" berichten laut dem Dokument über "erhebliche Hindernisse bei der Durchführung der Aufgaben im Zusammenhang mit dem EES". Die Bereitstellung eines der wichtigsten Bausteine des Systems, der Plattform für die Erbringung von Dienstleistungen für Beförderungsunternehmen und Reisende, verzögere sich zudem erheblich, "da die globalen Lieferketten für Hardware in erheblichem Maße unterbrochen wurden". Auf diesen Sachverhalt hätten weder EU-Lisa noch die Mitgliedstaaten Einfluss.

Die Entwicklung des EES sei eines der "komplexesten und herausforderndsten Programme der EU in den vergangenen Jahrzehnten", betont die Behördenleitung. Es gehe dabei um fünf hauptsächliche Komponenten in Form etwa des Zentralsystems und darauf aufbauender Anwendungen, von Webdiensten für Beförderungsfirmen und Reisende sowie der Datenbanken für die EU-Länder und andere -Agenturen.

Das Management erinnert zudem daran, dass das EES mit dem bestehenden Visa-Informationssystem (VIS) sowie einer parallel aufzubauenden gemeinsamen Datenbank für den Abgleich biometrischer Merkmale verknüpft werden müsse. Dieses "Shared Biometrics Matching System" (SBMS), für das die französischen Konzerne Idemia und Sopra Steria den Zuschlag erhielten, soll zunächst die Identifizierungserfordernisse des EES erfüllen. Es ist als übergeordneter "Speicher für Identitätsdaten" gedacht.

Mittelfristig soll das SBMS die Grundlage für die Verknüpfung aller Datenbanken in den Bereichen Sicherheit, Grenzmanagement und Migrationssteuerung bilden. Ziel des unter dem Aufhänger "Interoperabilität" laufenden Vorhabens ist es, auch das Schengen-Informationssystem (SIS) mit seinen Millionen Einträgen und die Eurodac-Datei, in der vor allem Fingerabdrücke von Asylbewerbern gespeichert werden, von 2023 an über ein Suchportal zu einer Biometrie-Superdatenbank zu verknüpfen.

Dazu kommen soll ferner etwa das künftige Europäische Reisegenehmigungssystem (ETIAS). Es sieht wie sein US-Vorbild ESTA vor, dass sich Einreisende, die derzeit nicht der Visumpflicht unterliegen, vorab behördlich registrieren und erst nach einer Bestätigung in EU-Länder kommen dürfen. Auch hier geht die EU-Lisa-Spitze nun von Verzögerungen aus, die direkt mit den Herausforderungen beim EES verbunden seien.

Das Behördenmanagement drängt darauf, dass EU-Lisa bis spätestens Mitte November eine angepasste Agenda vorlegt. Diese müsse Abhilfemaßnahmen vorsehen, um die Frist für die Fertigstellung der neuen Interoperabilitätsarchitektur bis Ende 2023 nicht zu gefährden.

In einer separaten vertraulichen Mitteilung warnt die Ratspräsidentschaft, dass auch die "abschließenden Vorbereitungen" für die SIS-Überholung "mit hoher Wahrscheinlichkeit" nicht bis Ende 2021 abgeschlossen werden könnten. Schuld daran seien die Komplexität und die hohe Anzahl an Tests, die die Mitgliedsstaaten und die EU-Agenturen durchführen müssten.

Dafür sei ausreichend Zeit erforderlich, "um den kontinuierlichen Betrieb des Schengener Informationssystems" und die Zusammenarbeit mit den nationalen Verbindungsämtern aufrechtzuerhalten, hebt die slowenische Regierung hervor. Es handle sich dabei um "die Eckpfeiler der Sicherheit" der Gemeinschaft. Die aktuelle Version der Fahndungsdatenbank, SIS II, konnte erst nach massiven technischen Problemen 2013 deutlich verspätet in Betrieb gehen. Die EU-Innenminister waren sich auf ihrem Oktobertreffen nun einig, dass EU-Lisa bis zur Dezember-Tagung "eine detailliertere Analyse und gegebenenfalls einen Vorschlag für einen neuen Zeitplan" für das Interoperabilitätsprojekt ausarbeiten soll.

(tiw)