Was passiert, wenn Twitter sich nicht an EU-Recht hält?

Elon Musk stürzt Twitter ins Chaos, Mitarbeiter verlassen in Scharen das Unternehmen. Das hat auch Auswirkungen auf den rechtskonformen Betrieb der Plattform.

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(Bild: Tada Images/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Jan Vollmer
Inhaltsverzeichnis

"Der erste Schritt jedes Projekts ist es, dessen Komplexität und Schwierigkeit grob zu unterschätzen", schrieb ein Account namens "Programming Wisdom" auf Twitter. Elon Musk kommentierte mit einem "100"-Emoji. Dieser Teil des Projekts "Twitter kaufen" scheint ihm geglückt zu sein.

Seitdem Elon Musk Chef der Plattform Twitter ist, steht der Dienst Kopf. Nach dem Desaster des Blauen-Haken-Abos, der Wiederherstellung von Donald Trumps Twitter-Account und einer beispiellosen Kündigungswelle ist unklar, wie lange Twitter in seiner jetzigen Form überhaupt noch technisch online bleiben kann. Laut Medienberichten übernachte Musk jetzt schon in der Twitter-Zentrale, in der Hoffnung die Probleme des Unternehmens selbst lösen zu können.

Was Musk auch erfolgreich unterschätzt zu haben scheint: Twitter muss nicht nur technisch funktionieren, sondern auch zunehmend anspruchsvollen Gesetzen der Europäischen Union gerecht werden. "Der Vogel ist befreit,“ schrieb Elon Musk nach dem Kauf der Plattform auf Twitter. "In Europa fliegt der Vogel nach europäischen Regeln," antwortete ihm per Tweet der zuständige europäische Kommissar Thierry Breton prompt. Und das bekommt Musk bereits jetzt zu spüren.

Vor dem Landgericht Frankfurt am Main klagt gerade der baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte Michael Blume gegen Twitter. Er fordert, dass Verleumdungen gegen ihn von der Plattform entfernt und blockiert werden. Blume fordert, dass auch "kerngleiche Inhalte umgehend entfernt werden und auch künftig nicht wiederhergestellt werden dürfen" – in anderen Worten, er verlangt von Twitter aktive Moderation. Twitter hingegen beruft sich derweil auf einen Stillhalte-Deal mit dem Justizministerium – der zu gelten scheint, bis 2024 der neue Digital Services Act (DSA) der EU angewandt wird.

Wie gut Twitter dann mit dem DSA zurechtkommt, ist aber eine andere Frage. Laut einer Meldung der Financial Times haben seit Musks Übernahme alle Mitarbeiter in Twitters Brüssler Büro gekündigt. Das Büro ist entscheidend für die Kommunikation mit der Europäischen Union.

"Die Grundzüge europäischer Regulierung sollten Elon Musk hoffentlich klar sein, schließlich hat er sich dazu etwa mit der Europäischen Kommission öffentlichkeitswirksam ausgetauscht", so Julian Jaursch, der sich für die Stiftung Neue Verantwortung mit Plattformregulierung beschäftigt. "Aber im Gegensatz zu anderen Tech-CEOs arbeitet er eben nicht seit Jahren an Fragen zu Inhaltemoderation und tauscht sich mit Aufsichtsbehörden aus", so der Experte in einer E-Mail auf Anfrage von MIT Technology Review.

"Der DSA verlangt, dass eine Plattform auch in der Lage sein muss, die Gesetze einzuhalten. Ohne qualifiziertes Personal und im Chaos wird es nicht möglich sein, Inhalte vernünftig zu moderieren. Aktuell wirkt es so, als hätte Twitter auch gar nicht die Absicht, den DSA einzuhalten,“ sagt die EU-Parlamentariern Alexandra Geese (Grüne) gegenüber MIT Technology Review. Geese hatte den Digital Services Act in den vergangenen Jahren maßgeblich mit verhandelt.

Mittelfristig wird die Europäische Kommission sich darüber abstimmen, welche Tech-Unternehmen in welche Kategorien fallen – und dementsprechend, welche Teile des Digital Services Act für wen gelten. Wenn die Europäische Kommission Twitter als "Very Large Online Player" (VLOP) einstuft, wäre zum Beispiel schon 2023 eine erste Risikoanalyse fällig.

Selbst wenn Twitter nicht als VLOP eingestuft würde, "müssen trotzdem Verpflichtungen zur Moderation und Auskunftsanfragen und zum Beispiel ein Verbot der Nutzung von sensiblen Daten in Profilen eingehalten werden. Alle journalistischen Berichte weisen darauf hin, dass Twitter dazu gerade nicht in der Lage ist", so Geese im Interview.

Dabei geht es nicht nur darum, welche Anforderungen Twitter in absehbarer Zeit erfüllen kann. Um dem DSA ab 2024 gerecht zu werden, müsste das Unternehmen sich auch darauf vorbereiten.

"So ein Gesetzt tritt ja nicht von einem Tag auf den anderen in Kraft. Die Strukturen, die die Einhaltung gewährleisten könnten, werden gerade willentlich zerschlagen, das ist natürlich problematisch. Wir beobachten das mit großer Sorge. Twitter kann dann auch 2024, wenn das Gesetz dann gilt, nicht sagen, dass sie noch Zeit brauchen", so Geese.

Wenn Twitter gegen die Regeln des DSA verstoßen sollte und die EU beschließt durchzugreifen, drohen dem Unternehmen Geldstrafen: Bis zu sechs Prozent des globalen Jahresumsatzes könnte die EU verlangen. Wenn die Probleme nicht behoben werden, könnten dazu regelmäßige Strafen kommen, die sich akkumulieren. Twitter und Elon Musk könnten solche Strafzahlungen empfindlich treffen. Seit Musks Übernahme haben laut Berichten schon 50 der wichtigsten 100 Werbekunden Twitter den Rücken gekehrt – Unternehmen, die allein 2022 über 750 Millionen Dollar für Werbung auf Twitter ausgegeben haben sollen. Bei einem Treffen mit Mitarbeitern sagte Musk, er hätte schon Tesla-Aktien verkauft um Twitter "zu retten".

Aber nicht nur Twitter, auch die EU selbst müsste in der Vorbereitung auf den DSA noch Ressourcen aufbauen.

"Ich hoffe sehr, dass die Kommission und Mitgliedstaaten den DSA nutzen, um gründlich, aber auch zügig, eine starke Plattformaufsicht aufzubauen. Dafür müssen Behördenstrukturen reformiert werden, Fachleute eingestellt werden und Beziehungen zu Unternehmen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft aufgebaut werden. Das dauert eine Weile," gibt Experte Jaursch zu bedenken. "Ohne eine starke Durchsetzung nützen auch die besten Regeln nichts."

(jle)