Nach Erdbeben: Türkische Twittersperre ist "technisches Problem"

Viele Türken beklagen online mangelnde Hilfe nach den Erdbeben. Da sperren die ISP den Zugriff auf Twitter. Die Regierung liest Twitters Management die Leviten.

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Fuat Oktay and Rednerpult, links eine türkische Fahne

Fuat Oktay, Vizepräsident der Türkei (Archivaufnahme) hält die Twittersperre durch die türkischen ISP für ein "technisches Problem".

(Bild: Provinzverwaltung Yozgat)

Lesezeit: 3 Min.

Die Zahl der Todesopfer und Verletzten steigt nach den schweren Erdbeben in Syrien und der Türkei stündlich. Zahlreiche Türken kritisieren online suboptimale Reaktionen der Behörden; andere organisieren über Twitter Hilfe oder rufen, noch unter Schutt begraben, mittels Tweets um Hilfe. Plötzlich sperren die türkischen Internetprovider den Zugriff auf Twitter.

Dabei setzen sie auf die Filtertechnik SNI (Server Name Indication), wie die in London ansässige Organisation Netblocks berichtet. Bei SNI wird aus TLS-verschlüsselten Aufrufen die Zieldomain extrahiert. Steht sie auf der schwarzen Liste, wird der Verbindungsaufbau verhindert. Diese Zensurinfrastruktur müssen türkische Provider per Gesetz vorhalten, um auf Behördenbefehl Netzsperren umzusetzen. Die Regierung der Türkei hat schon mehrfach Online-Zensur ausgeübt.

Die naheliegende Vermutung am Mittwoch: Die Regierung stört sich an der auf Twitter geäußerten Kritik an ihrer Reaktion auf die Katastrophe und sperrt kurzerhand den Zugriff auf Twitter. Nicht alle Landsleute können oder wollen sich ein Virtuelles Privates Netz (VPN) leisten, um die Sperre zu umgehen. Eine wohlwollendere Auslegung verweist auf betrügerische Spendenaufrufe auf Twitter; die Zensur könnte also dem Schutz der Bürger dienen.

Kritiker werfen der Regierung vor, durch die Zensur Hilfsmaßnahmen zu erschweren. Offene Kommunikation sei gerade jetzt lebensrettend. Fuat Oktay, Vizepräsident des Landes, weist die Kritik von sich: "Soweit ich erfahren habe, gab es technische Probleme", sagte er am Mittwoch. Angesichts der Katastrophe könnten die Behörden aber nicht jeder Empörung Aufmerksamkeit schenken.

Allerdings hatte der türkische Vizeminister Ömer Fatih Sayan, zuständig für Verkehr und Infrastruktur, am Mittwoch genügend Zeit für eine Videokonferenz mit zwei Twitter-Managern. Wie die türkische Nachrichtenagentur AA (Anadolu Agency) berichtet, waren seine Gesprächspartner John Hughes, bei Twitter derzeit für geopolitische Strategie zuständig, und Ronan Costello, gegenwärtig bei dem Unternehmen mit Beziehungen zu europäischen Regierungen befasst. Dabei las der Vizeminister den Twitter-Männern die Leviten: Twitter habe die Pflicht, die Verbreitung von Desinformation zu verhindern, weil sie zu Panik und Chaos führen könne.

Ein türkisches Gesetz zur Bekämpfung von Onlinekriminalität verpflichte Twitter zu aktiven Gegenmaßnahmen, erinnerte der Vizeminister. Die beiden Twitter-Vertreter sollen sich daraufhin zu besserer Zusammenarbeit mit türkischen Behörden verpflichtet haben. Twitter werde mehr Sorgfalt walten lassen und gegen Tweets vorgehen, die die Öffentliche Ordnung, Leben oder Eigentum gefährden, oder Persönlichkeitsrechte verletzen. Nach etwa sechs Stunden wurden die türkischen Twittersperren Mittwochabend wieder aufgehoben. Wenig später traten bei Twitter selbst Probleme auf, die Nutzer in aller Welt betrafen und offenbar nicht mit der türkischen Zensurinfrastruktur in Zusammenhang standen.

(ds)