Mit dem "Steini-Girl" und "3 Tage wach" in den Wahlkampfendspurt

Kurz vor der Bundestagswahl drehen die Parteien und ihre mehr oder weniger offiziellen Unterstützer noch einmal auf in einem sonst wenig innovativen Kampf um die Stimmen der Netzbürger. Für Unentschlossene stehen viele Online-Entscheidungshilfen parat.

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Kurz vor der Bundestagswahl am Sonntag drehen die Parteien und ihre mehr oder weniger offiziellen Unterstützer noch einmal etwas auf in einem sonst wenig innovativen Kampf um die Stimmen der Netzbürger. Die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) etwa hat ihr "teAM Deutschland" zu einer "72-Stunden-Kampagne" aufgerufen. In diesem Rahmen werden etwa Frühstückspakete an hungrige Passanten in der Berliner Friedrichstraße verteilt. Überwunden scheint auch der Schock der Hamburger Flashmob-Aktion vergangene Woche, bei dem eine lautstarke Gruppe die von Merkel vorgetragenen Ziele bei einer Rede einfach nur "Yeaahh" fand. Das Online-Team der Kanzlerin "bedankt" sich nun bei den Schreihälsen mit einem Remix ihrer Verlautbarungen mit Parolen "Angies" und einem – hoffentlich lizenzierten – Song von Usher.

Die Grünen bleiben seit dem gestrigen Donnerstagabend "3 Tage wach". Auf der entsprechenden Online-Plattform gelobt die Oppositionspartei, bis zum Schließen der Wahllokale "nonstop Rede und Antwort zu allen Fragen rund um grüne Politik" zu stehen. Etwa 200 Kandidaten, Abgeordnete und Experten sollen an der Aktion, die in der Bundesgeschäftsstelle der Partei angesiedelt ist und per Live-Stream verfolgt werden kann, beteiligt sein.

Die FDP gibt den "Freunden der Freiheit" in ihrer "mit mach"-Arena eher versteckt Anregungen für die letzte heiße Phase. Zugleich wollen die Liberalen noch 3,5 Millionen E-Mails sowie fast eine halbe Million SMS-Kurznachrichten verschicken. Eine Sprühschablone für den "48-Stunden-Wahlkampf" hat die Linke in ihrem "Aktiv-Blog" zum Download bereitgestellt und mobilisiert mit einem Video ihre Anhänger zum "selbstbewussten" Flagge-Zeigen im öffentlichen Raum. Die Piraten fordern unterdessen auf ihrer Seite "Klarmachen zum Ändern" einen "Internetminister", kapern den Nachthimmel, planen Versinnbildlichungen des gläsernen Bürgers auf der Straße und haben mit Enterhaken gegnerischer Hacker zu kämpfen.

Für die SPD zeichnet sich Rettung in letzter Minute von außen ab, nachdem ein Insider sich im "Freitag" unter dem Motto "No, we can't" enttäuscht über den Online-Wahlkampf der Genossen gezeigt hatte. "Ein bisschen Web 2.0 gibt es genauso wenig wie ein bisschen schwanger", kritisierte der anonyme PR-Stratege die Bürokratie in der "Nordkurve" der Zentrale der Sozialdemokraten und die Kontrollmentalität von SPD-Wahlkampfmanager Kajo Wasserhövel. Dieser bläst gerade ebenfalls zum "Endspurt" und lässt den Kandidaten Frank-Walter Steinmeier noch eine Runde über "hochmotivierte Menschen" und "erpresserische Lohndrückerei" bloggen.

Doch jetzt legt sich das "Steini-Girl" mit drallem Dekolletee für den amtierenden Außenminister alias "Toyboy" ins Zeug: "Weißes Haar und Silberblick, da machte es bei mir gleich Klick", trällert das Mädchen im Stil des "Obama-Girls" und kommt damit nach kurzer Zeit bereits auf etwa 120.000 Abrufe auf YouTube. Die SPD bestreitet, dass sie als Ideengeber für den von der Plattform Wahlzeit.tv produzierten Spot fungierte, der das Steinmeier anhaftende Image des "drögen Apparatschiks" zu wandeln sucht.

Für nach wie vor Unentschlossene stehen zahlreiche Online-Entscheidungshilfen und "Wahl-Prüfsteine" aus den buntesten Perspektiven parat. Neben dem Anfang September gestarteten "offiziellen" Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung hat der Stuttgarter Netzaktivist Alvar Freude etwa wieder die Plattform "Wen wählen?" online gestellt. Einer der Schwerpunkte dabei liegt auf der Auswertung von Ansichten von Bundestagskandidaten zum Zugangserschwerungsgesetz, der Ausweitung von Web-Sperren und zur These vom "rechtsfreien Raum" Internet. Auch die Strategien der Parteien zur Bekämpfung von Urheberrechtsverstößen oder alternative Entlohnungsmodelle für Künstler spielen dabei eine Rolle. Die mögliche Zukunft von Kopier- und Zitatmöglichkeiten in Bildung und Wissenschaft sowie den aktuellen Streitpunkt "Leistungsschutzrecht" hat das entsprechende Aktionsbündnis beleuchtet.

Wer "Bürgerrechte wählen" und sich gegen eine überbordende Überwachung aussprechen will, findet Anhaltspunkte beim Wahl-O-Maten des Aktionskreises Vorratsdatenspeicherung. Die Free Software Foundation Europe (FSFE) und der Linux-Verband (LIVE) haben Aussagen der Parteien zu Programmen mit frei verfügbarem Quellcode gesammelt und begutachtet. Sie kommen dabei aber zu leicht unterschiedlichen Einschätzungen. Den Parteien fehle ein "umfassender Ansatz", um die Potenziale freier Software für Deutschlands Wirtschaft und Gesellschaft zu verwirklichen, resümiert die FSFE. Der LIVE begrüßt dagegen, "dass sich Parteien bis in die bürgerliche Mitte im Laufe dieser Legislaturperiode des Themas Open Source deutlich bewusster geworden sind". SPD, Grüne, Linke und Piratenpartei begrüßten die Verwendung von Open-Source-Software in der Verwaltung.

Weit auseinander gehende Aussagen gibt es von Meinungsforschern und Beobachtern über die Bedeutsamkeit des Online-Wahlkampfs. So wird das Internet einmal als "wahlentscheidend" und "Allheilmittel gegen Wahlmüdigkeit" gepriesen. Zuvor hatte es geheißen, dass das Netz wenig relevant sei für Politik. "Das Web hat unbestreitbar einen wachsenden Stellenwert, kann aber mit traditionellen Wegen nicht mithalten", erklärte ein Sprecher der Südwest-SPD nun gegenüber dpa. Besonders beliebte You-Tube-Videos hätten meist nicht mehr als einige zehntausend Abrufe erzielt. Vertreter von Grünen, FDP und Piratenpartei betonten jedoch, dass das Netz geholfen habe, neue Wähler zu informieren und die eigenen Anhänger zu mobilisieren. Wer nach dem Urnengang eine Wahlanalyse aus "netzpolitischer Perspektive" jenseits der Elefantenrunden im TV sucht, dürfte beim "Wahlstudio im Netz" von Bundesradio.de und dctp.tv auf seine Kosten kommen. Dort soll das Ergebnis mit Bloggern, Politikern und Wissenschaftlern besprochen werden.

Zur Bundestagswahl 2009 und den Wahlprogrammen der Parteien siehe auch:

(Stefan Krempl) / (jk)