Vorratsdatenspeicherung: Forscher erkennen "kopernikanische Wende" beim EuGH

Mit dem neuen EuGH-Urteil sei der Weg prinzipiell frei für eine Totalerfassung der Online-Aktivitäten, monieren Experten. Das dürfe aber kein Freibrief sein.

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Trotz des Urteils dürfe der Staat kein allsehendes Auge werden, meinen Rechtswissenschaftler.

(Bild: Gerhard Gellinger, gemeinfrei)

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Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH), wonach das verdachtsunabhängige Protokollieren von IP-Adressen zur Verfolgung selbst minderschwerer Straftaten ohne Richtergenehmigung rechtlich zulässig sein kann, hat unter Wissenschaftlern Erstaunen hervorgerufen. Den Richterspruch "kann man durchaus als kopernikanische Wende des EuGH im Bereich der Datenspeicherung sehen", erläutert Philipp Hacker, Professor für Recht und Ethik der digitalen Gesellschaft in Frankfurt (Oder), gegenüber dem Science Media Center (SMC). Anders als bislang ordneten die Luxemburger Richter eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung nicht mehr in allen Konstellationen als schweren Grundrechtseingriff ein. Nur für eine detaillierte Überwachung Einzelner lege der EuGH die Latte noch höher.

Hacker erklärt den Kurswechsel unter anderem damit, dass an der vom Plenum getroffenen Entscheidung "zum Teil andere Richter beteiligt" beteiligt gewesen seien als bei früheren, deutlich restriktiveren Urteilen. Insbesondere habe der Berichterstatter gewechselt, vom deutschen Richter Thomas von Danwitz zur tschechischen Kollegin Alexandra Prechal. Zudem habe sich in den vergangenen Jahren viel getan. "Der lange Atem der Politik seit 2006 hat sich ausgezahlt", meint auch der Bremer Professor für IT-Sicherheitsrecht Dennis-Kenji Kipker. "Man probiert so lange, ein verfassungsrechtlich mehr als fragwürdiges Verfahren politisch durchzusetzen, bis sich die Rechtsprechungslinie der höchsten Gerichte irgendwann ändert."

Generell spricht Kipker ebenfalls von einer "deutlichen Kehrtwende in der Rechtsprechung des digitalen Grundrechtsschutzes" beim EuGH. Es bahne sich an, dass die Vorratsdatenspeicherung "mit den Aufweichungen sogar zur Verfolgung von Urheberrechtsverstößen von der Ausnahme zum Regelfall" werden könnte. Als "geradezu absurd" kritisiert der Informationsrechtler die Behauptung in der Entscheidung, "durch eine Datentrennung würde es nicht möglich sein, Schlüsse auf das Privatleben zu ziehen". Der EU-Abgeordnete Patrick Breyer (Piratenpartei) sieht es ähnlich: "Wo ein Trog ist, sammeln sich die Schweine", warnt er vor einer "grenzenlosen Datengier". IP-Adressen auf Vorrat zu speichern sei genauso, wie wenn jeder Bürger "ein sichtbares Kennzeichen um den Hals gehängt bekäme und dieses auf Schritt und Tritt notiert würde". Dies entspräche einer "Totalerfassung des täglichen Lebens", obwohl "99,99 Prozent dieser Daten wären völlig nutzlos" wären.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat im Lichte des Urteils bereits ihre Forderung nach einer Vorratsspeicherung von IP-Adressen bekräftigt. "Nicht alles, was legal ist, ist auch sinnvoll", hält Erik Tuchtfeld, Co-Vorsitzender des SPD-nahen netzpolitischen Vereins D64, dagegen. Es sei gut, dass sich die Bundesregierung mit ihrem Kompromiss von Instrumenten der Massenüberwachung verabschiedet habe. Sie sollte weiter auf grundrechtsschonende Maßnahmen wie Quick Freeze und Login-Falle setzen. Dafür setzt sich auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) ein: "Für den Schutz der Bürgerrechte im digitalen Raum wäre es fatal, eine Vorratsdatenspeicherung zum Zwecke der Verfolgung jeglicher, auch geringfügiger Straftaten zu ermöglichen." Es erscheine fraglich, ob die im Urteil vorausgesetzte "strikte Trennung" zwischen den begehrten Internetkennungen und sonstigen Nutzerdaten tatsächlich umsetzbar sei. Das Urteil sollte daher "keinesfalls als Freibrief für eine Massenüberwachung des Internets in Deutschland verstanden werden".

(nie)