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John-Dylan Haynes vom Bernstein Zentrum für computerbasierte Neurowissenschaften in Berlin machte 2007 mit einer Publikation Furore, in der er aus dem Hirnscan ermittelte, ob Probanden vorhatten, zwei Zahlen zu subtrahieren oder zu addieren. Doch die MRT verrät ihm heute längst mehr: Er könne mit rund 85-prozentiger Genauigkeit dem Scan entnehmen, ob Probanden einen Ort aus der virtuellen Realität kennen, so Haynes. "Orte hinterlassen eine ähnlich unverkennbare Signatur im Gehirn wie Objekte."

In einer laufenden Studie führt er Testpersonen in vier von acht Räumen – darunter ein Labor, ein leeres Büro, ein unordentliches Büro und einen Hörsaal. Dann betrachten die Probanden in einer MRT-Röhre Fotos der acht Räume. Anhand der Hirnscans lasse sich relativ verlässlich erkennen, wer welchen Ort zuvor betreten hat, sagt Haynes: "Verdächtige können mit dieser Methode eines Tages daraufhin untersucht werden, ob ihnen ein Tatort bekannt ist." Dieser Test könnte bei Prozessen künftig zum entscheidenden Indiz werden.

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sein Kollege Markowitsch bereits 2001 Hirnscans genutzt, um die Glaubwürdigkeit einer Zeugin in einem Mordprozess zu unterfüttern. Der Forscher prüfte, ob sie bei ihren Aussagen die gleichen Hirnareale aktivierte wie Personen, die mit unzweifelhaft korrekten Angaben aus ihren Lebensläufen konfrontiert wurden. Dies war der Fall. Seine genaue Vorgehensweise hat Markowitsch allerdings nie veröffentlicht. Das Gericht hatte damals aber offenbar keine Einwände gegen die Methodik.

Kann man MRT-Aufnahmen also eher trauen als Worten? Einiges spricht dafür. In einem Experiment zeigte Markowitsch, wie unsicher Zeugenaussagen sein können. Dazu führte er Studenten Spielfilme vor. Als er im Anschluss daran Einzelbilder aus den Filmen mit anderen Bildern mischte und die Probanden fragte, ob sie die Motive gesehen hatten, lagen diese zu 45 Prozent falsch. Die Hirnscans entlarvten diese Fehlerinnerungen: Die korrekt erinnerten Bilder aktivieren vor allem das Stirnhirn, die falsch erinnerten dagegen den visuellen Assoziationskortex beider Hirnhälften. Heißt es vor Gericht also bald: "Ich rufe den Zeugen in den Magnetresonanztomografen?"

Ganz so einfach ist es nicht. Den beeindruckenden Erfolgen des maschinellen Gedankenlesens steht eine ebenso lange Liste des Versagens gegenüber. Welche Schwierigkeiten auftauchen können, erkannte ausgerechnet einer der Urväter der MRT-Lügendetektoren: Langleben. Eigentlich wollte er 2008 mit einem besonders wirklichkeitsnahen Experiment den Grundstein für eine neue Disziplin der forensischen MRT setzen. Das Ergebnis ernüchterte den Neurowissenschaftler. Bei einem fingierten Vorstellungsgespräch versuchte er herauszufinden, ob die vom Bewerber präsentierten Qualifikationen stimmten – Militärdienst, Hochschulabschluss und die Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Buches.

Langleben legte den Probanden in ein MRT-Gerät und konfrontierte ihn mit drei zweifellos korrekten Fakten aus seinem Lebenslauf. Dann fragte er die drei fraglichen Qualifikationen ab. Jede Frage wurde in zufälliger Reihung 15-mal gestellt, damit ausreichend brauchbare Daten zusammenkommen – eine übliche Vorgehensweise. Langleben suchte nach einer stärkeren Aktivierung des präfrontal-parietalen Kortex. Diese Region im Stirnhirn war in seinen früheren Studien beim Lügen besonders aktiv. Langleben schloss aus den Aufnahmen, dass die Versuchsperson sowohl beim Buch als auch beim Studium gelogen habe, aber beim Militärdienst der Wahrheit treu geblieben sei. Tatsächlich aber waren alle drei Qualifikationen frei erfunden.

Dass er der dritten Lüge aufsaß, war eine herbe Enttäuschung für Langleben. "Es scheint keine eindeutige Signatur der Lüge im Gehirn und kein spezifisches Lügenareal zu geben", räumt er heute ein. Zwar aktiviert das Flunkern das Stirnhirn stärker und beansprucht die Kontrollfunktionen mehr als die Wahrheit – Schummeln ist einfach anstrengender. Aber welche Region im Stirnhirn besonders heftig arbeitet, variierte von Studie zu Studie. Mal war es der dorsolaterale präfrontale Kortex, mal der ventrolaterale präfrontale und mal der anteriore cinguläre (siehe Grafik S. 30). Das Epizentrum der Unaufrichtigkeit wandert also. Das hat schwerwiegende Konsequenzen: "Wenn sich das erhärtet, kann man Lügen nicht allein an der verstärkten Aktivierung bestimmter Hirnregionen erkennen", sagt Langleben. "Die forensische MRT wird kommen. Aber noch ist die Methode weder für die Lügendetektion noch zur Untermauerung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen reif fürs Gericht."

Diese Ansicht teilen heute die meisten Fachkollegen. Denn nahezu allen bisherigen Studien fehlt der Praxisbezug: Sie stammen aus dem Labor, keine einzige befasst sich mit Verurteilten oder auch nur mit gerichtsrelevanten Taten. Die Mehrzahl der Studienteilnehmer war männlich, studentisch, weiß, gesund – und damit in keinster Weise repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Die größte Studie umfasste gerade einmal 36 Teilnehmer. Kaum eine Untersuchung wurde wiederholt, um zu belegen, dass sie unabhängig von Ort, Zeit und Teilnehmern reproduzierbar ist.

Noch schwerer wiegt aber: In fast allen Experimenten wiesen die Forscher die Probanden an zu lügen. "Das gehorsame Sagen der Unwahrheit ist definitiv kein Lügen", kritisiert die Hirnforscherin Nancy Kanwisher vom Massachusetts Institute of Technology. Die Situation der Teilnehmer sei nicht zu vergleichen mit der von Angeklagten, bei denen es um Gefängnis, Freiheit oder um das Leben gehen kann – "ein seelischer Ausnahmezustand", kommentiert Hirnforscher John-Dylan Haynes.

Ein zweites Handicap schränkt die Aussagekraft der Studien mindestens ebenso drastisch ein. Viele Experimente haben nichts mit der Realität zu tun. In Langlebens Erstlingswerk zur Lügendetektion mussten Studenten lediglich leugnen, eine Kreuz-Fünf und eine Pik-Sieben zu besitzen. "In der realen Welt geht es nicht um Spielkarten, sondern um viel komplexere Handlungszusammenhänge", so Haynes.

Wie wenig Aussagekraft die Studien in der Realität besitzen dürften, zeigt eine Untersuchungen von Andrew Kozel von der University of Texas in Dallas, neben Langleben der renommierteste Lügendetektionsforscher: Er hatte 36 Probanden in Täter und Unschuldige eingeteilt. Die Täter wies er an, eine CD mit Aufzeichnungen über einen Raub zu vernichten. Die Unschuldigen erfuhren dagegen lediglich, dass jemand eine CD zerstört habe und sie für diese Tat ein Alibi bräuchten. Kozel wollte mit gezielten Fragen im MRT-Gerät entlarven, wer die CD tatsächlich zerstört hatte. Er konnte alle Täter identifizieren, bezichtigte aber auch zwei Drittel der Unschuldigen der Tat. Dieses Experiment zeigt, wie weit die Forscher noch von verlässlichen Aussagen entfernt sind.

Besonders wirklichkeitsnah mutet auch ein Experiment der Psychologen Joshua Greene und Joseph Paxton von der Harvard University an. Es ist eine der wenigen Studien, in denen die Teilnehmer nicht auf Anweisung tricksten, sondern sich durch gezielte Falschangaben eine höhere Auszahlung erschwindeln konnten. Der Hirnscan offenbarte, dass die Unaufrichtigen zusätzliche Kontrollregionen im Gehirn aktivierten, vor allem im präfrontalen Kortex. Allerdings bemühten die Untersucher sich gar nicht erst, anhand der Hirnscans herauszufinden, wer ehrlich war und wer nicht. Sie bildeten lediglich Gruppenmittel in der Hirnaktivität von Ehrlichen und Unehrlichen. "Auf Basis solcher Gruppenmittel ist keine Lügendetektion beim Einzelnen möglich", sagt Haynes. Bisher gibt es aber nur eine Handvoll Studien, vorrangig von Langleben und Kozel, welche die Scans auf individueller Ebene auswerteten.