Alles, was Sie von jetzt an denken...

Inhaltsverzeichnis

Noch ein anderes Manko schränkt die Bedeutung der Hirn-scans für Gerichtsverfahren ein: Die Probanden müssen nicht nur in die Untersuchung einwilligen, sondern auch gedanklich mitmachen. Wer die MRT austricksen möchte, kann das schon durch Blinzeln oder Bewegen der Zunge. In einer kürzlich veröffentlichten Studie von Giorgio Ganis von der Harvard Medical School in Boston schrumpfte die Erfolgsquote der Lügenerkennung von 100 auf 33 Prozent, wenn sich die Probanden im Scanner bewegten.

Würde das Gericht im Fall von Semrau diese Schwachpunkte berücksichtigen? Am 13. und 14. Mai 2010 versammelten sich die Anwälte beider Parteien unter dem Vorsitz von Richter Tu Pham zu einer Anhörung, um die Gerichtstauglichkeit des Hirnscans zu erörtern. Pikant wird die Anhörung an jener Stelle, an der Pham das Untersuchungsprotokoll von Cephos seziert. Firmenchef Steven Laken hatte zwei Blöcke à fünfzehn Fragen zu den Betrugsvorwürfen während eines Hirnscans abgefragt. Aus dem Protokoll von Cephos geht aber hervor: Einer der beiden Durchgänge wies zunächst darauf hin, dass Semrau log. Laken führte das darauf zurück, dass sein Klient sehr müde gewesen sei. Kurzerhand wiederholte er den Scan einige Wochen später. Dabei verkürzte er die drei- bis vierzeiligen Fragen, damit diese weniger anstrengend seien. Erst das führte zum gewünschten Ergebnis – dass Semrau aufrichtig sei. Richter Pham bemerkt dazu trocken: "Laken hat sein eigenes Protokoll missachtet, nur weil das erste Ergebnis nicht passte." Er lehnte den Scan als Beweismittel ab. Am 21. März 2011 verurteilt das Gericht Semrau in drei Fällen wegen Betrugs.

Der Stab über die forensische MRT ist damit allerdings noch nicht gebrochen – der Fall Semrau sagt eher etwas über die windigen Geschäftspraktiken von Cephos aus als über die Methode an sich. Langleben wundert sich bis heute über das blamable Vorgehen von Firmenchef Laken. "Der nächste Prozess mit Hirnscans kommt gewiss", ist der Neuroforscher überzeugt.

Trotz aller wissenschaftlicher Schwächen diskutieren Justizkreise auch hierzulande ernsthaft über einen Einsatz. In Deutschland wären MRT-Aufnahmen in Gerichtsverfahren teils sogar zulässig, schreibt der deutsche Jurist Stefan Seiterle 2010 in seiner Doktorarbeit, in der er dieser Frage erstmals nachging. Wie Markowitsch vertritt er die Ansicht, dass Hirnscans zur Entlastung eines Angeklagten herangezogen werden können. Jeder Zweifel an der Schuld müsse berücksichtigt werden – und sei die Methode noch so unzuverlässig.

Das mag verblüffen: Während die meisten Naturwissenschaftler auf die Bremse treten und weitere Studien anmahnen, gehen etliche Juristen und Forensiker mit der neuen Technik forsch voran. Und ihre Einschätzung beeinflusst die Praxis der Gerichte weit mehr. Selbst Richter und Polizisten lägen mit ihrer Einschätzung von Wahrheit und Lüge schlechter als der Zufall, argumentiert Markowitsch und suggeriert damit: Die MRT ist besser als der Mensch, also ist die Zeit reif dafür.

Die Hürden für neue forensische Methoden sind denkbar gering. Ob DNA-Test oder Jungfräulichkeitsuntersuchungen – in der Vergangenheit wurden sie nie im Vorfeld evaluiert. Der Gesetzgeber müsse sich nun Gedanken machen, fordert Seiterle. Denn wenn erst einmal jeder "Ladendieb wünscht, sich zur Entlastung in einen Hirnscanner zu legen", dann könne es zu "unüberschaubaren Kosten und Verfahrensverzögerungen" kommen. Auch Markowitsch fordert eine weltweite Kooperation von Juristen, Neurowissenschaftlern und Rechtsphilosophen, um zu klären, ob und wie weit ein Hirnscan zur Strafmilderung eines Angeklagten herangezogen werden kann: "Die Frage wird zu einem markanten Kennzeichen der Strafrechtsentwicklung im 21. Jahrhundert werden." (bsc)