Unsere letzte Chance: Was gegen das Artensterben hilft

Seite 6: Das jüngste Ökosystem der Welt

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Doch nicht nur gewachsene Biotope können einen Beitrag zur Artenvielfalt liefern. "Bei Naturschutz geht es um die Zukunft, nicht um die Vergangenheit", schreibt Rebecca Nesbit. "Statt die Natur in einen ,idealen‘ Zustand zurückzuverwandeln, steht es uns frei, neue Landschaften zu schaffen, welche den Bedürfnissen von Menschen und Tieren entsprechen – jetzt und in Zukunft."

Eine solche neue Landschaft befindet sich im Markermeer, nur wenige Kilometer nordöstlich von Amsterdam. Sie ist fast zehn Jahre jünger als das iPhone. An ihrem Anfang stand technokratische Hybris. 1963 begannen die Niederländer, das Markermeer mit einem Deich vom Ijsselmeer abzutrennen, um es trockenzulegen. Doch Anfang der 2000er wurde das Projekt abgeblasen, weil es keinen Bedarf für weiteres Land mehr gab.

Nun hatten die Niederländer ein Problem: Der Schlick aus den einmündenden Flüssen verwandelte das Markermeer in eine lebensfeindliche Brühe. Also besannen sich die Niederländer auf ihre Kunst der Landgewinnung. Ab 2016 spülten sie aus Sand, Lehm und Schlick eine 1300 Hektar große Inselgruppe namens Marker Wadden auf, flankiert von einem Deich aus Granitblöcken. Starker Westwind, wie er hier häufig herrscht, drückt das trübe Wasser des Markermeers über den Deich in eine Kaskade von Absetzbecken. Dort bildet sich fruchtbarer neuer Boden.

Das Ganze ist eine Art Geoengineering im Kleinen. Beim klassischen Geoengineering geht es darum, das gesamte Klima, etwa durch die Freisetzung von Schwefelpartikeln, zu "reparieren". Hier haben die Ingenieure eine Art Geo-Waschmaschine für das Markermeer gebaut, also eine Art "Ökosystem-Engineering".

Eine der fünf Inseln kann seit 2018 besichtigt werden und hat sich zur Touristenattraktion gemausert. "Haben wir uns dabei auf die Natur verlassen? Nein", erklärt der Guide einer Besuchergruppe. "Sonst könnten wir hier heute wohl kaum Führungen anbieten."

Zur Befestigung der Dünen wurde Strandhafer angepflanzt, der immer noch erkennbar in Reih und Glied steht. Auch das Schilf dahinter stammt vom Festland. Ansonsten aber ließ der Erbauer der Natur freien Lauf. In der Luft zirpt, zwitschert, tschilpt, kreischt, summt und brummt es mittlerweile allerorten, und überall wuchert kräftig gelbes Moor-Greiskraut – eine Pionierpflanze, die auch mit salzigem Boden klarkommt. Die bunten Windjacken der Touristen verlieren sich dazwischen. Immer wieder bilden sich kleine Trauben, wo Teleobjektive in die Richtung weisen, in der es etwas Besonderes zu entdecken gibt. Und davon gibt es reichlich – etwa eine besondere Orchidee oder der seltene Rotschenkel. Auch der Guide entdeckt während seiner Führung immer wieder etwas Neues, zum Beispiel ein Rosengewächs, das sich spontan am Strand angesiedelt hat.

Am Eingang verzeichnet eine handbeschriebene Tafel die jüngsten Sichtungen: Stelzenläufer, Krickente, Uferschwalbe, Rohrweihe, Schwäne, Flussseeschwalbe, Löffelente, Reiherente, Blaukehlchen, Uferschnepfe, Kolbenente, Sandregenpfeifer, Rohrammer, Kormoran, Star, Schwarzhalstaucher. Insgesamt sind hier bereits 140 verschiedene Vogel-, 190 Insekten-, 19 Fisch- und 170 Pflanzenarten aufgetaucht. Um genau zu erfassen, was überall kreucht und fleucht, haben Forschende mit weißen Bändern Bodensegmente markiert, auf denen sie regelmäßig Inventur halten. Zudem werden Touristen aufgerufen, ihre Fotos einzuschicken.

Und auch das Markermeer hat sich schon nach wenigen Jahren deutlich verändert. "Früher haben die Leute immer auf der anderen Seite des Deichs geangelt", sagt der Guide. "Heute angeln sie auf dieser Seite."

Das frisch aufgespülte Archipel "Marker Wadden" ist ein Refugium für Tiere und Pflanzen. Menschen dürfen nur eine der Inseln betreten – im Bild hinten links.  

(Bild: Shutterstock/Aerovista)

Als Modell für den Neubau von Ökosystemen auf der ganzen Welt taugt der Marker Wadden wohl nicht – dafür sind die Verhältnisse vor Ort zu speziell. Aber er zeigt, dass sich künstliche Ökosysteme mit moderatem Aufwand erschaffen lassen, wenn man die Eingriffe des Menschen und die Kräfte der Natur klug Hand in Hand arbeiten lässt.

Eine ähnliche Idee verfolgt auch der Ornithologe Peter Berthold. "Für das Riesenproblem des Artensterbens habe ich eine ganze einfache Lösung", sagte er in der 3sat-Sendung nano. "In jeder Gemeinde soll eine Arche Noah entstehen." Gemeinsam mit der Heinz-Sielmann-Stiftung arbeitet er daran, einen Verbund von künstlich angelegten Weihern, renaturierten Feuchtwiesen, Bächen oder Streuobstwiesen anzulegen, über die sich Vögel, Insekten und Reptilien verbreiten können. Seit 2003 sind im Bereich des Bodensees bereits mehr als 50 solcher Oasen entstanden. Nun soll das Modell auf weitere Bundesländer ausgeweitet werden.