Die X-Akten der Astronomie: Auf der Suche nach Dyson-Sphären

Seite 3: Der Sieger und die Gegenprobe

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TYC 6111-1162-1 hat dabei eine Temperatur, die in einem Bereich liegt, in dem die spektrophotometrischen Entfernungen im RAVE-Katalog sehr genau sind, während TYC 7169-1532-1 mit 7500 K in einem Bereich liegt, in dem RAVE die Entfernung häufig überschätzt. Daher fokussierten sich die Autoren schließlich nur noch auf TYC 6111-1162-1.

Um die Daten aus dem RAVE-Katalog unabhängig zu verifizieren, nahm das Team eigene Aufnahmen seines Spektrums mit dem Nordic Optical Telescope auf und analysierte die Spektrallinien. Sie kamen auf eine Temperatur von 6150 ±80 K, eine Schwerkraft log g von 4,24 ±0,1 (also g=104,24 cm/s², das entspricht 17,7-facher Erdschwerkraft; Astronomen rechnen gerne im alten Zentimeter-Gramm-Sekunden-System), eine Metallizität von 0,32 (logarithmischer Eisenanteil relativ zum Wert der Sonne; 0,32 bedeutet einen etwa doppelt so hohen Eisenanteil wie bei der Sonne, denn 100,32=2,09). Die Daten passen gut zu denen im RAVE-Katalog: 6169 ±54 K, log g 4,54 ±0,11, bis auf die Metallizität, die bei RAVE mit ca. 0,06±0,1 angegeben ist, also fast gleicher Metallanteil wie die Sonne. Aus ihren Daten folgern sie eine Masse von 1,34 Sonnenmassen (RAVE gibt 1,17 an), woraus über die für solche Sterne erwartete Leuchtkraft eine spektroskopische Entfernung von 776 ±156 Lichtjahren folgt. Laut RAVE-Katalog sollen es 723 ±163 LJ sein, während Gaia DR1 eine trigonometrische Entfernung von 374±24 LJ angibt, nur etwa halb so weit. Damit ist die Differenz der Entfernungen bestätigt.

Wenn eine Verdunklung vorläge, würde sie demgemäß 77 Prozent betragen und den Stern um 1,6 Größenklassen dunkler erscheinen lassen (und damit spektrophotometrisch entsprechend weiter entfernt). Welche alternativen Erklärungen sind denkbar?

Die spektrophotometrische Entfernung reagiert empfindlich auf die ermittelte Schwerebeschleunigung, die wegen des Logarithmus stark zubuche schlägt (log g=4,54 bedeutet gleich die doppelte Schwerebeschleunigung gegenüber 4,24), aber erst ein Fehler von 0,6 im Exponenten (Faktor 4 in der Schwerebeschleunigung) würde einen Entfernungsfehler um den Faktor 2 verursachen, wie hier der Fall.

Auf eine andere mögliche Fehlerquelle weist die Radialgeschwindigkeit des Sterns hin, also die Geschwindigkeit, mit der er sich auf die Erde zu oder von ihr weg bewegt, die sich aus der Verschiebung der Spektrallinien ablesen lässt (Dopplereffekt). Verschiedene Quellen geben sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten an, einmal -4,66 ±0,5 km/s, ein anderes Mal -25,3 ±1,0 km/s und eine dritte Quelle nennt zwei im Abstand von 6 Tagen ermittelte Werte von einmal -5,40 ±0,05 km/s und ein andermal -5,89 ±0,05 km/s – wie ist das möglich? Offenbar handelt es sich bei TYC 6111-1162-1 um einen spektroskopischen Doppelstern, der einen zweiten Stern umkreist, dessen Linien im Spektrum überstrahlt werden und unsichtbar bleiben. Zu verschiedenen Zeiten bewegt sich die sichtbare Komponente mehr oder weniger auf die Erde zu.

Auf die Entfernungsmessung könnte das folgende Auswirkung haben: Gaia ermittelt die Entfernung aufgrund der Verschiebung, die ein Stern vor dem fernern Hintergrund erfährt, wenn die Erde von der einen Seite der Sonne auf die andere wechselt (Parallaxe). Man kann sich den Effekt leicht anschaulich machen, wenn man den Finger vor die Nase hält und abwechselnd das rechte und das linke Auge schließt, dann springt der Finger vor dem Hintergrund hin und her. Je weiter weg man ihn von der Nase hält, desto kleiner ist der Sprung. Und das gilt für Sterne gleichermaßen, wenn die Erde sich im Jahreslauf zusammen mit Gaia um 300 Millionen Kilometer von der einen auf die andere Seite der Sonne bewegt. Die Winkel sind hier allerdings extrem klein, selbst der nächste Stern bewegt sich nur etwa 1,5 Bogensekunden am Himmel hin und her. Das ist nur 1/1200 Vollmonddurchmesser. Bei TYC 6111-1162-1 handelt es sich um gerade einmal 8 Tausendstel Bogensekunden.

Wenn sich nun zwischen den Entfernungsmessungen der Stern bei seinem Umlauf um den unsichtbaren Partner bewegt hat, stimmt die gemessene Entfernung nicht mehr. Auf 770 Lichtjahre Entfernung bräuchte sich der Stern nur um 1 AE (Abstand Erde-Sonne) zu verschieben, dann erschiene seine trigonometrische Entfernung nur halb so groß. Der andere Stern müsste dafür etwa eine Sonnenmasse haben. Normalerweise sollte er dann jedoch im Spektrum sichtbar sein, weil er nur wenig dunkler als TYC 6111-1162-1 selbst wäre. Es sei denn, es handelte sich um einen Weißen Zwerg. Damit wäre eine fehlerhafte Entfernungsmessung von Gaia zu erklären, die den Autoren allerdings unwahrscheinlich erscheint, weil in den Gaia DR1 mehrere Dutzend Messungen über 14 Monate eingegangen sind und die Inkonsistenz eigentlich hätte auffallen müssen. DR2 (erschienen Ende April 2018) und DR3 sollten da Klarheit schaffen.

DR2 ist bereits veröffentlicht und für jedermann zugänglich. Wenn man TYC 6111-1162-1 in der Simbad-Datenbank nachschlägt, findet man dort aktuell eine von Gaia DR2 ermittelte trigonometrische Parallaxe von 5,7462 ±0,1666 Millibogensekunden, das entspricht einer Entfernung von 551 bis 585 Lichtjahren. Der obere Wert liegt im Fehlerintervall der RAVE DR5-Entfernung von 723 ±163 LJ (560-886 LJ) und knapp außerhalb des von Zackrisson et al. selbst bestimmten Entfernungsintervalls (620-932 LJ), wobei diese Grenzen nicht absolut sondern statistisch sind. Ausgehend von einer Gaußschen Fehlerverteilung würde bei einem korrekten mittleren Wert von 5,7462 Millibogensekunden ein zufälliger Messfehler mit 67 Prozent Wahrscheinlichkeit innerhalb des angegebenen Intervalls von 551-585 Lichtjahren bleiben, aber immerhin mit 33 Prozent außerhalb. Legt man die Signifikanz höher als 67 Prozent, wird das Intervall größer und überschneidet das von Gaia. Der Unterschied zwischen Gaia DR2 und den RAVE- bzw. Zackrisson-Messungen ist nicht mehr dramatisch, angesichts der Komplexität, die Entfernung aus dem Spektrum zu ermitteln. In deren Bestimmung fließen immerhin viele Annahmen ein und Details wie Sternflecken, Randverdunklung oder Abplattung werden nicht berücksichtigt.

Der Stern hat sich laut Simbad-Eintrag mittlerweile außerdem als Schnellläufer entpuppt, das heißt er hat eine hohe Eigenbewegung am Himmel. Damit ist nicht die Radialgeschwindigkeit gemeint, sondern die Bewegung in der Himmelsebene, die Gaia nach knapp zwei Jahren Beobachtung bestimmen konnte. Der Stern hat sich also zwischen den Messungen seitlich verschoben, und das nicht, weil er ein Doppelstern wäre (davon steht bei Simbad nichts), sondern weil er sich schnell durch die Milchstraße bewegt. Da Zackrisson et al. in ihrer Arbeit nichts über diesen Umstand schrieben, ist es möglich, dass er ihnen damals noch nicht bekannt war. Dies könnte erklären, warum die trigonometrische Entfernung in Gaia DR1 so niedrig angegeben worden war. Außerdem beruhten die DR1-Daten auf einer Kombination von Messungen von Gaia und dem Vorgänger Hipparcos, da die 14 Monate, über die Beobachtungsdaten für DR1 gesammelt wurden, zu kurz für präzise Ergebnisse waren. Die Kombination aus zwei Quellen und die geringere Genauigkeit von Hipparcos könnten ebenfalls zu dem kleinen Entfernungswert beigetragen haben.

Obwohl TYC 6111-1162-1 im Anomalien-Katalog des Breakthrough-Listen-Projekts aufgeführt ist, ist er kein wirklich überzeugender Fall für eine mögliche Dyson-Sphäre, zumal keinerlei Infrarot-Überhang erkennbar ist. Vielleicht haben Zackrisson et al. deshalb auch keine Nachfolgearbeit über den Stern veröffentlicht, nachdem die DR2-Daten bekannt wurden.

Zackrisson et al. verweisen in ihrer Arbeit darauf, dass DR2 1,3 Milliarden statt nur 2 Millionen Entfernungsmessungen enthalte und zudem Leuchtkraft-Abschätzungen für 77 Millionen Sterne, die aus der Farbe des Sterns abgeleitet werden (Gaia misst hier einen Farbindex, der repräsentativ für die Temperatur des Sterns ist). Die daraus abgeleitete photometrische Entfernung sei allerdings unsicherer als spektrophotometrische Messungen es sind. Im Gaia DR3 würden dann jedoch zusätzlich Daten des Radialgeschwindigkeits-Spektrometers von Gaia hinzukommen. Die Autoren schätzen, dass auf diese Weise für rund eine Million Sterne hinreichend genaue spektrophotometrische Entfernungen abgeleitet werden könnten, so dass ein Vergleich mit der trigonometrischen Entfernung möglich wäre. Ausgehend von ihrer DR1-RAVE-Analyse wären rund 1000 Kandidaten mit errechneten Bedeckungsgraden von mehr als 70 Prozent zu erwarten, die dann noch einmal separat zu untersuchen wären, ob sie zum Beispiel durch grobkörnigen Staub auf der Sichtlinie abgeschwächt wurden, der sich nicht durch eine Rötung des Lichts verrät.

Vielleicht finden sie also zahlreiche neue Kandidaten im DR3, der im Dezember veröffentlicht wird. Dass sich davon einer als Dyson-Sphäre entpuppt, ist allerdings hinreichend unwahrscheinlich.

Quellen:

(mho)