Die X-Akten der Astronomie: Der hyperschnelle Kugelsternhaufen HVGC-1

Seite 2: Da kommt was auf uns zu

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Nelson Caldwell und seine Kollegen untersuchten von 2010 bis 2013 zu diesem Zweck 2500 mutmaßliche Kugelsternhaufen in der Umgebung von M87 und der benachbarten elliptischen Galaxie M60. Sie maßen Radialgeschwindigkeiten zwischen 500 und 3000 km/s; der Median der Geschwindigkeiten betrug ziemlich genau 1300 km/s – eben jene Geschwindigkeit, mit der sich M87 und der Virgo-Haufen von uns entfernen. Umso erstaunter waren die Astronomen, als sie einen Kugelsternhaufen in ca. 270.000 Lichtjahren (projizierter) Entfernung neben M87 fanden, der uns mit -1025 km/s entgegenkommt. Relativ zu M87 bewegt er sich folglich mit mindestens – da seine 3D-Bewegung unbekannt ist – 2300 km/s!

Das ist die größte bisher gemessene Annäherungsgeschwindigkeit eines astronomischen Objekts, das sich nicht in einem engen Orbit um eine Zentralmasse befindet. Sie ist größer als die Fluchtgeschwindigkeit von M87 und aller Wahrscheinlichkeit nach sogar größer als die des Virgo-Haufens insgesamt (soweit dessen Masse und ihre Verteilung bekannt sind).

Diese Aufnahme von HVGC-1 zeigt, dass er auf den ersten Blick nicht von einem Stern zu unterscheiden ist. Caldwell et al. haben verschiedene Analysen durchgeführt, um die Natur des Objekts zu verifizieren.

(Bild: Canadian-France-Hawaii-Telescope, Harvard Smithsonian Center for Astropyhsics)

Sie gaben ihm den Namen HVGC-1, was für "Hyper Velocity Globular Cluster" steht – Hochgeschwindigkeits-Kugelsternhaufen. Aber handelt es sich überhaupt um einen Kugelsternhaufen? Auf die große Entfernung ist das nämlich gar nicht so ohne Weiteres ersichtlich.

Tatsächlich ist die Entfernung des Objekts zunächst einmal vollkommen unbekannt, man muss zu deren Abschätzung wissen, welche Leuchtkraft das Objekt hat – ein naher Einzelstern kann am Himmel so hell erscheinen wie ein weit entfernter Sternhaufen aus hunderttausenden Sternen. Ein zufällig auf der Sichtlinie zu M87 befindlicher sogenannter "Hyperschnellläufer" könnte gegebenenfalls mit einem Kugelsternhaufen von M87 verwechselt werden. Solche Sterne können mehrere 1000 km/s erreichen.

Wie funktioniert die Beschleunigung eines solchen Sterns? Wenn ein Stern auf eine große Masse (wie etwa ein supermassereiches Schwarzes Loch) zufällt, wird er von ihrer Gravitation beschleunigt und fällt auf einer parabel- oder hyperbelförmigen Bahn um diese herum, ändert dabei seine Richtung um weniger als 180° und wird durch den Schwung der Annäherung wieder in die Ferne katapultiert. Der Betrag seiner Geschwindigkeit ist in der Ferne schließlich wieder genau so groß wie vor der Begegnung.

Wenn hingegen ein Doppelsternsystem das Schwarze Loch passiert, so kann folgendes passieren: Der Schwerpunkt des Doppelsternsystems bewegt sich auf derselben Bahn, wie zuvor der Einzelstern. Die beiden Binärpartner mögen sich in einer Ebene mit geringer Verkippung gegen die Bahnebene um das Schwarze Loch umkreisen. Der innere Stern bewege sich zum Zeitpunkt der größten Annäherung gerade gegen die Richtung des Schwerpunkts, also langsamer als dieser, der andere in Richtung des Schwerpunkts, also schneller. Wenn der innere Partner im Doppelsternsystem relativ zum Schwarzen Loch so langsam ist, dass er dessen Fluchtgeschwindigkeit bei dieser Entfernung unterschreitet, wird er von ihm auf einer Ellipsenbahn eingefangen und der schnellere wird mit erhöhter Geschwindigkeit fortkatapultiert.

Beim nach Jack G. Hills benannten Mechanismus wird ein Doppelstern, der in die Nähe eines massereichen Schwarzen Lochs (MBH = Massive Black Hole) gerät, getrennt, wobei der weiter außen befindliche Stern als Hyperschnellläufer (HVS = Hypervelocity Star) beschleunigt fortkatapultiert wird. Die beiden Sterne umkreisen sich mit der Geschwindigkeit vb und bewegen sich in der Nähe des Schwarzen Lochs mit der Geschwindigkeit v im engsten Abstand rbt an diesem vorbei. Wenn der innere Stern sich gerade rückläufig mit -vb zur Bahnbewegung v bewegt und die Differenz v-vb kleiner als die Fluchtgeschwindigkeit des Schwarzen Lochs ist, wird er eingefangen und umkreist dieses fortan auf einer elliptischen Bahn ("S-star": Sterne, die das supermassereiche Schwarze Loch der Milchstraße, Sagittarius A* umkreisen, werden auch als S-Sterne bezeichnet). Der andere Stern wird mit der erhöhten Geschwindigkeit v+vb als HVS fortgeschleudert.

(Bild: Warren R. Brown, Hypervelocity Stars, The Annual Review of Astronomy and Astrophysics 2015.53:15-49, doi:10.1146/annurev-astro-082214-122230.)

Für das zentrale Schwarze Loch der Milchstraße, Sagittarius A* (sprich: Sagittarius A-Stern, kurz Sgr A*) mit 4 Millionen Sonnenmassen beträgt die Geschwindigkeit v (siehe Bild) bei einer engen Passage, die ein System aus zwei Sternen von je 3 Sonnenmassen mit einem Abstand von 0,5 AE trennt, etwa 10.000 km/s. Einer der Sterne, die ihren Schwerpunkt mit vb=100 km/s umkreisten, wird sich schließlich mit etwa 1400 km/s Geschwindigkeitsüberschuss vom Sgr A* entfernen; bis zu 4000 km/s sind im Extremfall möglich. Dieser Vorgang ist nach seinem Entdecker Jack G. Hills als Hills-Mechanismus bekannt.

Ein anderer möglicher Mechanismus, der einen Hyperschnellläufer erzeugen kann, ist uns schon bei den Pulsar-Planeten begegnet. Ein Stern in einem sich eng und schnell umkreisenden Doppelsternsystem könnte sich durch eine asymmetrische Supernovaexplosion seines Partners, die dessen Restkörper (Neutronenstern oder Schwarzes Loch) fortkatapultiert, plötzlich alleine wiederfinden und mit seiner Orbitalgeschwindigkeit geradeaus weiterfliegen.

Ist HVGC-1 also in Wahrheit nur ein Hyperschnellläufer im Vordergrund, der sich der Sonne nähert und vielleicht aus einer anderen Galaxie stammt, von deren supermassereichem Schwarzen Loch er fortkatapultiert wurde? In der Richtung von HVGC-1 befindet sich jedenfalls keine nahe Galaxie der lokalen Gruppe, aus der er stammen könnte und das Zentrum der Milchstraße liegt ebenso in einer völlig anderen Richtung.

Das Caldwell-Team sah sich schärfere Archivaufnahmen des Objekts an und fand, dass HVGC-1 offenbar einen unscharfen Rand hat und sein Profil somit eher zu einem Kugelsternhaufen denn zu einem Stern passen würde, wenn auch zu einem ungewöhnlich kleinen (rund 20 Lichtjahre Radius bis zur halben Helligkeit) – was allerdings am Rande des Auflösungsvermögens der Aufnahme lag und somit nur bedingt verlässlich ist. Weiterhin führten sie Farbphotometrie durch – von der bereits bei den Bloataren die Rede war – und fanden, dass sich das Objekt in einem Zweifarbendiagramm inmitten anderer Kugelsternhaufen wiederfindet, abgesetzt von den Fixsternen, die im Schnitt weniger Infrarotanteil zeigen – da Kugelsternhaufen alt sind, bestehen sie nur noch aus Sternen, die ein hohes Alter erreichen können und damit eher auf Sparflamme brennen (sprich: Rote Zwerge), während die Einzelsterne im Vordergrund vorwiegend leuchtkräftig und jünger sind und daher mehr Anteile kurzwelligeren Lichts ausstrahlen.

Zweifarbendiagramm von Objekten um die Galaxie M87. Auf der x-Achse der Farbindex aus Ultraviolett (u, ca. 360 nm) und Infrarot (i, ca. 800 nm). Kleine Zahlen bedeuten blauer und damit heißer. Auf der y-Achse der Farbindex aus i und langwelligem Infrarot K (2190 nm). Auch hier bedeuten kleinere Zahlen kürzere Wellenlängen. Die blauen Kreise sind Objekte, die gemäß ihrer hohen Geschwindigkeit mit großer Sicherheit Kugelsternhaufen im Virgo-Haufen sein müssen, während die roten Dreiecke Objekte darstellen, die gemäß ihrer geringen Geschwindigkeit sicher Vordergrundsterne der Milchstraße sind. Wie man sieht, bilden sie bis auf zwei Ausreißer deutlich verschiedene Gruppen. Bei gleicher Temperatur sind die Kugelsternhaufen im langwelligen K-Bereich etwas heller als die Vordergrundsterne (vermutlich wegen der großen Zahl der in ihnen enthaltenen Roten Zwerge), deswegen liegen sie im Diagramm oberhalb der Sterne. HVGC-1 liegt klar inmitten der Kugelsternhaufen.

(Bild: Caldwell et al., arXiv)

Schließlich verglichen sie noch die Verhältnisse der Helligkeiten verschiedener Spektrallinien und fanden auch hier, dass HVGC-1 inmitten der gesicherten Kugelsternhaufen von M87 liegt und weitab von Sternen in der Milchstraße oder deren Halo.

Daher gehen sie davon aus, dass es sich tatsächlich um einen Kugelsternhaufen von M87 handelt. Wenn dem so wäre, dann leuchtet er auf die Entfernung von M87 mit einer Leuchtkraft von 3,4 Millionen Sonnenmassen, was eine Menge ist – bekannte Kugelsternhaufen der Milchstraße wie M13 und M92 im Herkules bringen es nur auf 600.000 bzw. 200.000 Sonnenmassen. Nur der größte Kugelsternhaufen der Milchstraße, Omega Centauri, spielt mit 4 Millionen Sonnenmassen in der gleichen Liga wie HVGC-1. Aufgrund der Aufweitung der Spektrallinien schließen Caldwell et al. auf eine Streuung der Geschwindigkeiten der Sterne von 80 km/s – dies ist ein Maß für die Bahngeschwindigkeiten der Sterne innerhalb des Sternhaufens.

Wie kann nun ein Objekt von mehr als 3 Millionen Sonnenmassen so schnell unterwegs sein? Eine vage Möglichkeit wäre, dass HVGC-1 nicht zu M87, sondern zu einer anderen Galaxie gehört, etwa der benachbarten Galaxie M86, die sich innerhalb des Virgo-Galaxienhaufens mit 1700 km/s gegenüber dessen Schwerpunkt in unsere Richtung bewegt. Ein sie umlaufender Kugelsternhaufen, der sich gerade in Richtung der Erde bewegt, könnte eine Negativgeschwindigkeit von mehr als 1000 km/s aufweisen. M86 ist gleich weit entfernt wie M87, die beiden sind also auch in drei Dimensionen Nachbarn.

Jedoch beträgt der Winkelabstand von HVGC-1 zu M87 nur in ein Viertel ihres Winkelabstands zu M86 (projizierte Entfernungen: 274 Millionen beziehungsweise 950 Millionen Lichtjahre) und umlaufende Kugelsternhaufen bewegen sich in der Ferne ihrer Muttergalaxie gemäß des 2. Keplerschen Gesetzes am langsamsten. HVGC-1 passt nicht in die Geschwindigkeitsverteilung der anderen gebundenen Kugelsternhaufen von M86 – oder irgendeiner anderen Galaxie im Virgo-Haufen, M87 eingeschlossen. Woher auch immer er stammt, er hat eine ungewöhnliche Geschwindigkeit, die nicht einfach als Bahngeschwindigkeit im Umlauf um eine Galaxie zu erklären ist. Man muss folglich davon ausgehen, dass HVGC-1 durch irgendeinen Mechanismus beschleunigt wurde.

Eine Möglichkeit wäre, dass der Kugelsternhaufen infolge einer Galaxienkollision fortgeschleudert wurde. Große elliptische Galaxien wie M87 entstehen durch die Kollision großer Spiralgalaxien (ein Schicksal, dass der Milchstraße und der Andromedagalaxie in etwa fünf Milliarden Jahren bevorsteht). Dabei werden, wie in der folgenden Simulation zu sehen ist, stets Teile der Galaxien mit großer Geschwindigkeit fortgeschleudert – nur so können die verbliebenen Teile zur Ruhe kommen; ein Teil der Bewegungsenergie aus dem freien Fall aufeinander zu muss fortgetragen werden, damit das System nicht wieder auseinanderfliegt.

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Theoretisch könnte HVGC-1 auf diese Weise fortkatapultiert worden sein. Dagegen spricht allerdings, dass kein anderer Kugelsternhaufen in der Gegend von M87 auch nur mit annähernd vergleichbarer Geschwindigkeit unterwegs ist. Die größte Rotverschiebung hat ein Sternhaufen, der sich mit 2800 km/s von der Erde entfernt, die größte Blauverschiebung eines M87-Kugelsternhaufens neben HVGC-1 beträgt -300 km/s, entsprechend Radialgeschwindigkeiten von 1500 km/s bzw. 1600 km/s relativ zum Zentrum von M87. Angesichts von rund 12.000 Kugelsternhaufen sollte man viele Objekte finden, die die Lücke zu den 2300 km/s von HVGC-1 bevölkern.

In einer von Caldwell zitierten Arbeit von Martizzi und anderen aus dem Jahr 2012 wurden Simulationen eines der Masse des Virgo-Haufens (rund 100 Billionen Sonnenmassen) entsprechenden Galaxienhaufens durchgeführt. In den Simulationen entstand auch regelmäßig eine zentrale massereiche Galaxie wie M87, jedoch ergaben sich niemals Partikelgeschwindigkeiten von mehr als 1800 km/s innerhalb von 300.000 Lichtjahren um diese Galaxie. Caldwell et al. betonen, dass dies zwar kein Ausschlusskriterium sei, dass es aber hinreichend unwahrscheinlich mache, dass HVGC-1 in Folge einer Galaxienkollision beschleunigt wurde.

Eine andere von Caldwell et al. in Betracht gezogene These bezieht sich auf Arbeiten von Merritt et al. sowie O’Leary und Loeb aus dem Jahr 2009. Nach der Kollision zweier Galaxien sinken die in ihnen enthaltenen supermassereichen Schwarzen Löcher in Wechselwirkung mit den umgebenden Sternen allmählich zum Zentrum und verschmelzen dort irgendwann. Dabei werden gewaltige Energiemengen in Form von Gravitationswellen frei. Schon das Verschmelzen von Schwarzen Löchern von einigen Dutzend Sonnenmassen setzt mehrere Sonnenmassen an Gravitationsenergie frei, wie wir aus der Beobachtung solcher Ereignisse mit den LIGO- und Virgo-Gravitationswellendetektoren wissen.

Die erwähnten Arbeiten prognostizierten, dass der Verschmelzungsvorgang zu einer asymmetrischen Abstrahlung von Gravitationswellen führen könne, sodass das entstehende Schwarze Loch einen Kick bekäme, der es aus seiner Galaxie herauskatapultieren würde. Dabei würden stets einige im Zentrum der Galaxie vorhandene Sterne mitgerissen werden, von hunderten bis zu mehreren Millionen Sonnenmassen, allerdings dichter gepackt als in einem Kugelsternhaufen und mit weitaus höheren durchschnittlichen Geschwindigkeiten aufgrund des sie zusammenhaltenden supermassereichen Schwarzen Lochs. Auf diese Weise sollten sogenannte "Hyperkompakte Sternsysteme" (HCSS) um die Schwarzen Löcher entstehen. Etwa 100 Stück davon sollte es demnach in der Nähe des Zentrums des Virgo-Haufens geben.

Könnte HVGC-1 eines von diesen sein? Caldwell und Coautoren halten dies jedoch für unwahrscheinlich, weil die Streuung der Sterngeschwindigkeiten in einem HCSS 400 bis 1000 km/s betragen sollte und sie hatten für HVGC-1, wie oben erwähnt, nur 80 km/s gemessen. Außerdem ist HVGC-1 arm an Metallen. Es handelt sich also um sehr alte Sterne, während ein HCSS aus dem Zentrum einer Galaxie Sterne enthalten sollte, die aus Materie bestehen, die schon von mehreren Sterngenerationen mit Metallen angereichert wurde. In Galaxien hält die Sternentstehung länger an als ein Kugelsternhaufen, da wesentlich mehr Gas zur Verfügung steht. Kurzlebige, als Supernovae endende Riesensterne reichern in wenigen hundert Millionen Jahren das Gas mit schweren Elementen an.