Kommentar: Das Problem mit Musks Comeback-Plan von Vine – es gibt heute TikTok

Twitter-Neubesitzer Elon Musk glaubt an die einstige Video-App Vine und will sie nun wiederbeleben. Doch diesem Vorhaben liegen Steine im Weg.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 23 Kommentare lesen
Logo der App von Vine

Mit der Video-App von Vine ließen sich einst kurze Videos teilen – wie man es heute von TikTok kennt. Elon Musk will Vine nun wiederbeleben.

(Bild: dpa, Jens Büttner)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Chris Stokel-Walker
Inhaltsverzeichnis

Es sieht danach aus, dass eine einst beliebte App zum Teilen von Kurzvideos kurz vor ihrer Rückkehr steht: Vine hatte von 2012 bis 2017 als Twitter-Tochter ein kurzes Leben im Online-Rampenlicht, bis sie dann – mir nichts, dir nichts – eingestellt worden war. Doch nach der Übernahme von Twitter durch Elon Musk steht nun wohl ein Revival an.

Vine hatte in den Herzen vieler Millennials einen wichtigen Platz als letzter glorreicher Vertreter des Social Web eingenommen, bevor die Szene vollends kommerzialisiert worden war – und jede App begann, gleich auszusehen. "Vine war das, was das Internet hätte sein können, und nicht das, was es wurde", meinen Fans. "Es gibt nur wenige Dinge, bei denen sich das Internet einig ist, aber fast jeder vermisst Vine mit einer echten Nostalgie", sagt Jessica Maddox, Assistenzprofessorin am College für Kommunikations- und Informationswissenschaften der Universität von Alabama.

Die Tatsache, dass so viele Vine vermissen, könnte der Grund dafür sein, dass Elon Musk, der mit der Übernahme von Twitter zunächst drastische Personalkürzungen angekündigte und mittlerweile schon einige Menschen entlassen hat, nun eine Lanze für den Dienst bricht. Er will Twitter verjüngen und zur "Super-App" machen.

Kommentar von Chris Stokel-Walker

Chris Stokel-Walker ist freiberuflicher Technologie- und Kulturjournalist in Großbritannien und schreibt unter anderem für die US-Ausgabe von MIT Technology Review. Er ist Autor von "TikTok Boom: China's Dynamite App and the Superpower Race for Social Media".

Wie viele Entscheidungen, die Musk im Laufe seiner Übernahme von Twitter getroffen hat, wurde auch diese zuerst durch eine Umfrage unter seinen Followern auf Twitter selbst bekannt. Am späten 31. Oktober fragte Musk, ob er die Vine-App, die Twitter 2012 vor ihrem Start gekauft hatte, zurückbringen sollte. Mehr als 4 Millionen Menschen haben ihre Stimme abgegeben, 69,6 Prozent von ihnen sagten: Ja.

Stunden später berichtete Axios, dass die Twitter-Ingenieure angewiesen wurden, die Code-Basis hinter Vine für einen geplanten Relaunch später in diesem Jahr zu untersuchen. Die Nachricht einer möglichen Renaissance wurde allerdings von Sara Beykpour, einst technische Leiterin der Android-Version von Vine, mit Skepsis aufgenommen. "Der Code ist mehr als 6 Jahre alt. Einiges davon ist mehr als 10 Jahre alt", twitterte sie. "Die sollten sich das nicht näher ansehen. Wenn man Vine wiederbeleben will, sollte man von vorne anfangen." (Beykpour reagierte nicht auf eine Bitte um Stellungnahme.)

Es ist nicht nur die Aussicht, jahrzehntealten Code in eine funktionsfähige Form zu bringen, die Musk davon abhalten sollte, Vine tatsächlich wiederzubeleben – selbst wenn es eine breite öffentliche Unterstützung gibt. Die App kann noch so sehr auf der Nostalgiewelle reiten, es ist unwahrscheinlich, dass sie bei Nutzerinnen und Nutzern ankommt, denn diese sind inzwischen zu TikTok, dem geistigen Nachfolger der App made in China, gewechselt.

"Die Plattformen haben sich seit Vine weiterentwickelt – es geht nicht mehr um eine rein soziale App", sagt Carlos Pacheco, Berater für Social Media Audience Measurement und Monetarisierung. "Das Modell von TikTok, einen kuratierten App-Algorithmus mit einer Plattform zu kombinieren, ist der neue Standard."

Die Twitter-Ingenieure, die mit der Wiederbelebung von Vine betraut sind, müssen nicht nur den alten Code ins Jahr 2022 bringen, sondern auch herausfinden, wie sie quasi Feuer mit Feuer bekämpfen könnten, um TikTok anzugreifen. Die TikTok-Nutzerbasis ist mit einer Milliarde weitaus größer als die mehreren hundert Millionen monatlich aktiven Nutzer von Twitter.

Der Erfolg von TikTok beruht vor allem auf der Fähigkeit des Dienstes, den Nutzerinnen und Nutzern Inhalte zu präsentieren, die sie sehen wollen, bevor sie wissen, dass sie sie sehen wollen. Dies geschieht durch Algorithmen aus dem Bereich des maschinellen Lernens, die jahrelang in der chinesischen Schwester-App Douyin trainiert wurden.

Jene algorithmische Macht war bisher das, was die Konkurrenten Instagram Reels und YouTube Shorts nur um den zweiten Platz kämpfen ließ – und es ist unwahrscheinlich, dass ein neu gestartetes Vine viel besser abschneiden würde. Stattdessen könnte es in die Fußstapfen des Dienstes Byte treten, dem Versuch von Vine-Mitbegründer Dom Hofmann, den Geist seiner Schöpfung wiederzubeleben. Seit Ankündigung im Jahr 2018 und Start im Jahr 2020 gab es hier bereits zwei Rebrandings.