Missing Link: Zweite Elektrifizierung – die Geburt einer neuen Auto-Industrie?

Seite 2: Wiederholt sich die Geschichte?

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Gut 120 Jahre nach der Gründung der Neuen Automobilgesellschaft wird Berlin/Brandenburg erneut zum Automobilstandort – auch diesmal unter Elektrizitäts-Vorzeichen. Tesla baut als einziger großer Hersteller in Europa ausschließlich Elektroautos. Und wieder bekommen die deutschen Premiumhersteller Schwierigkeiten mit der amerikanischen Konkurrenz – ganz wie vor einhundert Jahren. Eine halbe Million Fahrzeuge oder fast 10.000 pro Woche sind das angepeilte Produktionsziel, das, so das Handelsblatt, mit nur 12.000 Beschäftigten (davon je 5000 in Endmontage und Qualitätsprüfung und 2000 in der Batteriezellfertigung) und 918 Robotern erreicht werden soll.

Noch bevor die Produktion richtig hochgelaufen ist und während die angepeilte halbe Million Fahrzeuge pro Jahr noch in weiter Ferne sind, machen die Fahrzeuge des amerikanischen Herstellers Tesla das elektrische Rennen – auch auf dem deutschen Automarkt. Im ersten Quartal 2022 führen Tesla Model Y und Tesla Model 3 die Zulassungsstatistik an, gefolgt von Fiat 500 und Hyundai Kona. Tesla verkaufte 14.408 Fahrzeuge, fast dreimal so viele wie VW.

Die vermeintlichen Tesla-Killer ID.4 und ID.3 aus dem Hause Volkswagen tauchen erst an siebter beziehungsweise neunter Stelle auf. Dabei sollte doch der ID.3 nach Käfer und Golf bei VW eine Ära prägen und das Volksauto des Elektrozeitalters werden (daher der Name ID.3, das dritte iconic product in der Geschichte des Hauses).

Tesla tritt gleich in mehrfacher Hinsicht in die Fußstapfen Fords, in seinen Fabriken produziert es im Wesentlichen nur ein Modell (in Berlin das Model Y), und das auch mit wenigen Farb- und Ausstattungsvarianten, ganz wie Ford beim Model T, dem Massenvehikel der Verbrenner-Zeit. Auch heute ist demgegenüber bei der etablierten Konkurrenz die Modell-, Farb- und Ausstattungsvielfalt verwirrend groß. Und sie verzetteln sich auch weiterhin, das gerade vorgestellte neue Flaggschiff aus München, der BMW 7er ist in drei Motorvarianten zu haben (Verbrenner, Hybrid und batterieelektrisch). Und Tesla ist viel produktiver als die deutsche Konkurrenz. Tesla braucht nur zehn Stunden, um ein Auto zu bauen, die Konkurrenz von VW laut Herbert Diess dreimal so lang für den ID.3.

Derzeit sind sie bei der Herstellung von E-Autos nicht konkurrenzfähig, Tesla verdient als einziges Unternehmen mit den Fahrzeugen überhaupt Geld. Kein Wunder, sind sie doch überwiegend immer noch mit Verbrennern beschäftigt, rund 95 Prozent aller derzeit vom Band laufenden Fahrzeuge, also praktisch alle, bekommen einen fossilen Motor verpasst. Die deutschen "Premiumhersteller", allen voran Daimler, Horch (Audi) und die Bayerischen Motorenwerke haben sich zu lange auf ihre beherrschende Rolle im Luxussegment der Verbrenner verlassen.

Auch die Fabriken aus der Verbrenner-Ära stellen keinen Vorteil der etablierten Hersteller dar, im Gegenteil, sie werden zur Altlast. VW hat die größte Fabrik der Welt in Wolfsburg stehen, und trotzdem machen sie es Tesla nach und beabsichtigen, ebenfalls eine neue Fabrik auf der grünen Wiese zu errichten, voraussichtliche Fertigstellung: 2026.

Eine Industrie mit neuen Standorten, neuen Produktionsverfahren und neuen Playern ist am Entstehen: am Standort Grünheide in Brandenburg bei Berlin, aber nicht nur dort – viele weitere vorwiegend im Osten Deutschlands werden zur Basis dieser neuen Industrie rund um Batterien, Elektroautos und Computerbauteilen. Hier geben sich die Zulieferer die Klinke in die Hand: Bosch, Continental, Zahnradfabrik Friedrichshafen, der Roboterhersteller Kuka – alle wittern sie Geschäfte mit Tesla. ZF-Chef Wolf-Henning: "Tesla ist ein guter Kunde."

Rund um Tesla siedeln sich Zulieferer an, insbesondere für Batterietechnologie. Schon bevor die Tesla-Pläne für die Gigafactory bei Berlin bekannt wurden, hatte sich der heute weltgrößte Batterie-Hersteller CATL für eine Fabrik in Ostdeutschland entschieden, in diesem Fall in Thüringen. Und Intel platziert seine neue Chip-Fabrik in Magdeburg, etwa in der Mitte zwischen Wolfsburg und Grünheide. Selbst ein Hersteller aus Vietnam sucht derzeit in Deutschland nach einem Produktionsstandort. VinFast, der vietnamesische Autohersteller, arbeitet mit der deutschen Handelsagentur zusammen, um einen Standort für den Bau von Elektroautos und -bussen zu finden.

Eine neue Industrie entsteht, die – das wird immer deutlicher – herzlich wenig mit der alten fossilen Autoindustrie zu tun hat, die Synergien und Überschneidungen sind weit geringer, als in der Branche lange Zeit angenommen wurde. Ein schnelles Einholen von Tesla durch die etablierten Hersteller ist ausgeblieben und gerät auch für die Zukunft in weiter Ferne. Tesla will in einem Jahrzehnt 20 Millionen Fahrzeuge pro Jahr verkaufen – weit mehr als doppelt so viel wie derzeit die gesamte Volkswagen-Gruppe.

Die Folge: Die deutschen "Premiumhersteller" Daimler und BMW ziehen sich aus dem Volumengeschäft zurück, konzentrieren sich auf Nischenmärkte und Luxuskundschaft – ganz so wie Daimler zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Und bei Volkswagen? Im Juli 2021 hieß es noch: "Volkswagen wird bis 2025 Marktführer bei Elektrofahrzeugen sein." Daran glaubt heute bei VW keiner mehr, neuerdings heißt die Parole "Marge und Qualität" – eine Chiffre für „klein aber fein“.

(bme)