Polio: Kinderlähmung vor der Rückkehr

Schlechte Impfraten sorgen offenbar für eine neuerliche Ausbreitung des fast schon ausgerotteten Virus. In London werden Eltern nun Booster angeboten.

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Ein Impfstoff mit Kanüle.

(Bild: FabrikaSimf/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Jessica Hamzelou
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Donnerstagmittag. Eigentlich sollte ich bei der Arbeit sein. Stattdessen tobe ich mit meinem Kind durch den kleinen, verwilderten Garten hinter der Praxis meines Hausarztes, zusammen mit etwa 15 anderen Eltern. Wir sind alle aus demselben Grund hier – um unsere Kinder gegen Polio, sprich: Kinderlähmung, impfen zu lassen. "Wir impfen heute etwa 200 Kinder", erklärt die Krankenschwester.

Meine jüngste Tochter wird im Oktober zwei Jahre alt. Sie ist bereits dreimal gegen Polio geimpft worden und sollte eigentlich die nächste Dosis erhalten, sobald sie drei Jahre und vier Monate alt ist. Doch das wird nicht reichen. Denn im Abwasser von Nord- und Nordostlondon, in der Gegend, in der wir wohnen, wurden Polioviren entdeckt. Die staatliche Gesundheitsbehörde hat deshalb die Eltern von Hunderttausenden von Kindern zwischen einem und neun Jahren aufgefordert, das Angebot einer vorgezogenen Auffrischungsimpfung anzunehmen.

Es ist nicht das erste Mal, dass das Poliovirus im Abwasser Londons gefunden wird. Doch dieses Mal gibt es Anzeichen dafür, dass es sich auch ausbreiten könnte. Im Vereinigten Königreich wurde seit 1984 kein Fall von Kinderlähmung mehr diagnostiziert. Allerdings kommen die Einschläge näher. In den USA hatte ein 20-Jähriger in Rockland County, New York, eine offenbar durch Polio verursachte Lähmung. Es ist dort die erste Erkrankung im ganzen Land seit 2013. Was also ist hier los? Steht die Kinderlähmung, die längst ausgerottet war, vor einem Comeback? Und können Booster-Kampagnen wie die in London helfen?

Das Poliovirus verbreitet sich unglaublich leicht – in der Regel über kontaminierte Lebensmittel oder Wasser oder durch engen Kontakt mit Infizierten. Sobald das Virus in den Körper eines Menschen gelangt, bahnt es sich seinen Weg in den Darm, wo es sich vermehrt und zunächst Magenbeschwerden verursachen kann. Für viele Menschen ist das das Ende vom Lied – laut Weltgesundheitsorganisation sind die Symptome in bis zu 90 Prozent der Fälle mild. Doch in einigen Fällen greift das Virus das Nervensystem an, was zu Lähmungen der Gliedmaßen oder – noch etwas seltener – der Muskeln, die wir zum Atmen benutzen, führen kann. In diesem Fall kann eine Infektion sogar tödlich verlaufen.

Obwohl sich viele Menschen von einer schweren Kinderlähmung erholen, verbleiben oft Behinderungen. Umso revolutionärer war die Impfung gegen Polio, die vom Forscher Jonas Salk entwickelt wurde und die seit den Fünfzigerjahren angewendet wird. Mit Ausnahme von zwei Ländern ist es seither weltweit gelungen, das Polio-Wildvirus auszurotten. Das Virus zirkuliert allerdings noch immer in Afghanistan und Pakistan, obwohl in beiden Ländern Impfbemühungen im Gange sind.

Die britische Gesundheitsbehörde erklärt, dass sie die Verbreitung des Virus in London mit großer Dringlichkeit untersucht. Die genetische Sequenzierung der bisher gefundenen Proben zeigt, dass das Virus jenem sehr ähnlich ist, das in einem der Polioimpfstoffe steckt. Nur eine der beiden heute verwendeten Vakzinen kann zu impfbedingter Polio führen. Der orale Polioimpfstoff, der über Tropfen verabreicht wird, enthält eine lebende, aber abgeschwächte Form des Poliovirus. Wenn dieses Virus in den Darm gelangt, vermehrt es sich für eine begrenzte Zeit und kann eine starke Immunreaktion hervorrufen, die die betreffende Person vor künftigen Infektionen schützt. Dieses Virus wird allerdings auch mit dem Kot der Person ausgeschieden.

Doch wie wir alle wissen, können Viren mutieren. Sehr selten kann das geschwächte Virus zu einer Form mutieren, die wieder eine Krankheit verursachen kann. Und noch seltener kann diese dann bei geimpften Menschen mit einem schwachen Immunsystem Polio auslösen. Und da das Virus mit dem Kot ausgeschieden wird, könnte es sich weiter ausbreiten und Ausbrüche bei ungeimpften Personen verursachen, selbst wenn die geimpfte Person, deren Viren ins Abwasser gelangt, nicht erkrankt ist. Die meisten Menschen, die den Schluckimpfstoff erhalten, scheiden das Virus nur einige Tage lang aus. Aber einige von ihnen, die das Virus nicht so schnell abgeben, können es gar jahrelang ausscheiden, sagt Nicola Stonehouse, Virologe an der Universität von Leeds im Vereinigten Königreich. In diesen Fällen hat das Virus mehr Möglichkeiten, im Körper der Person zu mutieren, während es ständig weiter ausgeschieden wird. "Der Darm wird im Grunde als kleine Virusproduktionsfabrik benutzt", sagt Stonehouse.

Mit dem gespritzten Impfstoff ist das nicht der Fall, denn er enthält eine Form des Virus, die im Wesentlichen abgetötet ist und sich nicht mehr vermehren kann. Aus diesem Grund sind viele Länder auf den injizierten Polioimpfstoff umgestiegen – das Vereinigte Königreich hat beispielsweise 2004 die orale Polioimpfung ganz abgeschafft. Der Injektionsimpfstoff wird in vier oder fünf Dosen verabreicht, die erste im Alter von zwei Monaten. Warum also ist das Virus heute noch im Londoner Abwasser?

Die Übertragungskette begann wahrscheinlich mit einem Kind, das vor kurzem in einem anderen Land mit dem Schluckimpfstoff geimpft worden war, vermutet Stonehouse. "Dieses Kind ist vielleicht völlig gesund und hat inzwischen aufgehört, das Poliovirus zu produzieren", sagt sie. "Aber es kann das Virus an eine andere Person weitergegeben haben, die es wiederum an eine andere Person weitergegeben hat." Das Virus scheint sich also über eine kleine, bislang unbekannte Anzahl von Menschen in London verbreitet zu haben.

Wir schreiben hier London, weil das Virus dort entdeckt wurde. Laut Stonehouse wird das Abwasser im Vereinigten Königreich dort und in Schottland routinemäßig auf eine Reihe von Viren untersucht. Viele Virologen sind jedoch der Meinung, dass sich das Virus im Vereinigten Königreich und darüber hinaus noch weiter ausbreiten könnte oder das schon getan hat. Denn es wird noch nicht ausreichend danach gesucht. Doch warum überhaupt jetzt? Stonehouse sagt: Es war schlicht Zufall, einfach Pech. Es ist möglich, dass diese Art der Ausbreitung schon früher stattgefunden hat und die Behörden es nur nicht bemerkt haben. Das ist jedoch kein Grund, gleichgültig zu bleiben. "Das Virus verbreitet sich so leicht, dass jeder Hinweis auf eine Übertragung wirklich beunruhigend ist", sagt die Virologin.

Wie besorgt sollten wir also sein? Erwachsene können zwar schwer erkranken, aber das ist selten, – und sie sollten immer noch durch alle Impfungen geschützt sein, die sie in ihrer Kindheit erhalten haben. Ich bin dankbar für den bitteren Würfelzucker mit Polioimpfstoff, den man mir und so vielen verabreicht hat. Kinder unter fünf Jahren sind am stärksten gefährdet, an Polio und seinen Komplikationen zu erkranken. Daher ist es wichtig, dass die Kinder ihre Routineimpfungen auffrischen lassen. Meine Tochter sollte eigentlich bereits geschützt sein – sie hat die drei für ein Kind ihres Alters empfohlenen Impfungen erhalten.

Bei Kindern ist die Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Poliovirus zu infizieren und es zu verbreiten, größer als bei Erwachsenen – und zwar auch dann, wenn sie den Impfstoff erhalten haben. In einer Erklärung des Gemeinsamen Ausschusses für Impfungen und Immunisierung (JCVI) des Vereinigten Königreichs wird unterdessen auf noch unveröffentlichte Studien verwiesen, laut denen es ein weiteres Problem gibt: der Keuchhustenimpfstoff, der schwangeren Frauen derzeit verabreicht wird, könnte die Immunreaktion ihrer Babys auf die ersten Polio-Impfungen abschwächen. Das deutet wiederum darauf hin, dass diese Impfstoffe in jungen Jahren möglicherweise nicht so viel schützen wie bislang erhofft. Auch das ist einer der Gründe, warum selbst geimpften Kindern wie meinem Mädchen der Booster jetzt schon angeboten wird. Und weil der Impfstoff sehr sicher ist, "schadet es nicht, sich noch einmal impfen zu lassen, selbst wenn der Impfschutz vollständig ist", sagt Stonehouse.

Die Kinderlähmung kann bislang nicht geheilt werden, aber man kann ihr vorbeugen. Deshalb habe ich meine jüngste Tochter an diesem Donnerstagnachmittag auch zur Ärztin gebracht. Ihre ältere Schwester wurde hingegen noch nicht zur Auffrischungsimpfung eingeladen – der Booster wird derzeit Kindern, die innerhalb des letzten Jahres ihre Vorschulimpfung (mit drei Jahren und vier Monaten) erhalten haben, nicht angeboten. Aber in ein paar Monaten hat sie Anspruch darauf. Ich hoffe, dass es bis dahin keine neue Impfung braucht.

(bsc)