Putin lässt den Bären los

Seite 2: Bürgerjournalisten unterwegs

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Nur drei Tage vor dem Absturz hatte der "Bürgerjournalist" Eliot Higgins die Betaphase seines Crowdfunding-Projekts Bellingcat gestartet. Bellingcat würde Open-Source-Informationen verwenden, versprach er, "um weltweite Fragen zu untersuchen und über Themen zu berichten, die unterrepräsentiert und von etablierten Medien ignoriert würden ... Syrien, Irak, Türkei, Kurdistan, Nigeria, Dschihadisten, der britische Telefon-Hacker-Skandal, Polizeikorruption und vieles mehr."

Das "vieles mehr" wurde schnell zum Absturz von MH17. Weniger als sechs Stunden nach dem Abschuss hatte Higgins ein Video gefunden, in dem die Buk, von einem einzelnen Fahrzeug begleitet, durch Snischne fuhr. Zwei Jahre später verwendet das niederländisch geführte internationale Untersuchungsteam (Joint Investigation Team, JIT) dieses Video in seinem Abschlussbericht.

Mit einem minimalen Budget, mit Beiträgen aus sozialen Netzen und frei verfügbaren Satellitenfotos produzierte das Bellingcat-Netzwerk seine Ergebnisse. In einer Reihe von Berichten identifizierten die Teilnehmer die Buk-Einheit Nummer 332 und das zugehörige Bataillon der 53. Flugabwehr-Raketen-Brigade in Russland. Sie verglichen Dutzende Buk-Fotos, die auf Vkontakte zwischen 2009 und 2013 geteilt wurden, und konzentrierten sich schließlich auf sieben charakteristische Merkmale.

Dazu gehörten Ablagerungen von Auspuffgasen an der Karosserie, Beulen, die Anordnungen von Kabelverbindungen zum Raketenaufrichter, Beschriftungen und die Kombination von Hohl- und Speichenrädern der Fahrzeuge auf jeder Seite. Ein Bellingcat-Aktivist mit Geheimdiensthintergrund entwickelte eine innovative Art von "Fingerprinting", um das Problem zu lösen, wie man zwei Fahrzeuge auf perspektivisch verzerrten Fotos vergleicht.

Bellingcat war auch die erste Gruppe, die öffentlich den Weg beschrieb, den die Buk bis Ende Juni nahm: In Russland, in der Ukraine vor, während und nach dem 17. Juli. Das Projekt hat seitdem mehrere Dutzend Soldaten der Einheit 32406 identifiziert durch Zusammenfügen von Inhalten und Freundeslisten auf Vkontakte und Querverweise mit Beiträgen auf einem Forum für die oft ängstlichen Mütter und Ehefrauen von Soldaten.

Mit ungleich größerem Budget führte der niederländische Sicherheitsausschuss seine offizielle Untersuchung durch. Er kann auf Wissen über Luftunfälle aus einem ganzen Jahrhundert zurückgreifen. Über 15 Monate rekonstruierten die Experten erhebliche Teile der Boeing 777. Hunderte von Ermittlern analysierten 1448 Stücke des Wracks, vernahmen über 200 Zeugen, analysierten 150000 abgefangene Anrufe sowie eine halbe Million Fotos und Videos. Das Vorhaben kostete 4,8 Millionen US-Dollar.

Obwohl sie eigentlich ihr Pulver für künftige Strafverfolgungen trockenhalten wollten, präsentierten die Ermittler im vergangenen September vorläufige Ergebnisse. Nachdem sie die Bemühungen von Forschungskollektiven wie Bellingcat gelobt hatten, kamen sie zu einer eindeutigen Schlussfolgerung: Eine Buk-M1 TELAR mit 9M38M1-Raketen, die 9N314M-Sprengköpfe trugen, wurde von der Russischen Föderation in die Ukraine gefahren und feuerte eine Rakete von einem Startplatz etwa auf halbem Weg zwischen den Dörfern Perwomajskyi (Mai-Tag) und Chervonyi Zhovten (Roter Oktober) ab. Anschließend kehrte das Waffensystem nach Russland zurück.

Nichts davon zeigte in Russland Wirkung. Stattdessen schaltete die russische Regierung ihre Nebelmaschine ein. Russische Staatsmedien, Trollfarmen, halbautomatische Botnetze und das, was der russische Schriftsteller Nikolai Leskov "nützliche Narren und dumme Enthusiasten" nannte, began-nen ihre Arbeit. Die Antwort der russischen Regierung auf das Abschießen von MH17 war eine in einer Travestie eingehüllte Scharade: eine unerbittliche Abfolge von Beschimpfungen und Täuschungen, die das Ziel hatte, jede Tatsache in ein Netz von Desinformation zu wickeln.

Die russische Regierung produzierte eine Wolke von sich ständig verändernden Behauptungen – die Schuld lag angeblich bei einem ukrainischen Kampfjet, bei ukrainischen Bodentruppen, bei der CIA, oder man behauptete, Putins Privatflugzeug sei das eigentliche Ziel des Angriffs gewesen. Gleichzeitig gab es zahlreiche Versuche, den niederländischen Sicherheitsausschuss zu hacken. Und mehrere Bellingcat-Aktivisten erlebten Spear-Phishing-Angriffe.

Doch die Auseinandersetzungen um die Ermittlungen im Fall MH17 sollten sich schon bald als Auftakt zu einem weitaus größeren Spiel erweisen: IT-Sicherheitsexperten registrierten Hackerangriffe auf zahlreiche weitere Ziele wie französische und britische Fernsehsender, die Nato, die OSZE sowie die polnischen, niederländischen, finnischen und norwegischen Regierungen und den Deutschen Bundestag. Mit strategisch platzierten "Leaks", die aus gestohlenen vertraulichen Daten bestehen, versuchten Unbekannte zudem die Wahlen in den USA und Frankreich zu beeinflussen.