Erdbeben: Wie KI in der Katastrophenhilfe hilfreich sein kann

Humanitäre Teams in der Türkei und in Syrien nutzen maschinelles Lernen, um Erdbebenschäden schnell zu erfassen und Rettungsmaßnahmen zu planen.

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Islahiye, Türkei: Satellitenbilder (links) und die Ausgabe von xView2 (rechts)

(Bild: Maxar Technologies (links); UC Berkeley/Defense Innovation Unit/Microsoft (rechts))

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Tate Ryan-Mosley
Inhaltsverzeichnis

Das jüngste Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion hat aktuellen Angaben zufolge fast 50.000 Menschen das Leben gekostet. Tausende weitere Menschen werden vermisst. Das Beispiel eines neuen Tools zeigt, wie Künstliche Intelligenz nun bei der Planung der Einsatzkräfte nach dem Beben helfen könnte.

xView2 heißt die Open-Source-Software, die von der Defense Innovation Unit des Pentagon in Kooperation mit zahlreichen Forschungspartnern gesponsert und entwickelt wurde, darunter Microsoft und die University of California, Berkeley. Es nutzt Algorithmen des maschinellen Lernens in Verbindung mit Satellitenbildern, um Gebäude- und Infrastrukturschäden im Katastrophengebiet zu identifizieren und deren Schweregrad zu kategorisieren. Und zwar schneller, als dies mit aktuellen Methoden möglich ist.

Ritwik Gupta, leitender KI-Wissenschaftler bei der Defense Innovation Unit und Forscher in Berkeley, erklärt, dass das Programm den Ersthelfern vor Ort dabei helfen kann, eine Einschätzung zu erhalten, die bei der Suche nach Überlebenden und der Koordinierung der Wiederaufbaumaßnahmen hilfreich sein kann. In den vergangenen fünf Jahren wurde xView2 bereits von der kalifornischen Nationalgarde und der australischen Geospatial-Intelligence-Organisation bei Waldbränden eingesetzt, sowie vor kurzem bei den Wiederaufbaumaßnahmen nach den Überschwemmungen in Nepal.

Auch im türkischen Adiyaman wurde xView2 laut Gupta von mindestens zwei verschiedenen Such- und Rettungsteams der UN eingesetzt. Die gleichnamige Provinz wurde durch das Erdbeben schwer verwüstet und die Bewohner waren durch das verspätete Eintreffen der Such- und Rettungskräfte frustriert. xView2 konnte den Helfern vor Ort erfolgreich dabei helfen, "beschädigte Bereiche zu finden, die sie nicht kannten", sagt Gupta: "Wenn wir ein Leben retten können, ist das ein guter Einsatz der Technologie." Die Algorithmen verwenden eine Technik, die der Objekterkennung ähnelt, die "semantische Segmentierung", bei der jedes einzelne Pixel eines Bildes und seine Beziehung zu benachbarten Pixeln ausgewertet wird, um Schlussfolgerungen zu ziehen.

Der Screenshot zeigt, wie dies auf der Plattform aussieht, mit Satellitenbildern der Schäden auf der linken Seite und der Einschätzung des Modells auf der rechten Seite – je dunkler das Rot, desto schlimmer die Trümmer. Atishay Abbhi, Experte für Katastrophenrisikomanagement bei der Weltbank, sagt, dass eine solche Bewertung normalerweise Wochen dauern würde und jetzt nur noch Stunden oder Minuten benötige.

(Bild: Maxar Technologies (links); UC Berkeley/Defense Innovation Unit/Microsoft (rechts))

Dies ist eine Verbesserung gegenüber den herkömmlichen Systemen zur Bewertung von Katastrophen, bei denen Rettungs- und Notfallhelfer auf Augenzeugenberichte und Anrufe angewiesen sind, um schnell festzustellen, wo Hilfe benötigt wird. Eine moderne Alternative sind Drohnen, die mit Kameras und Sensoren über Katastrophengebiete fliegen, um Daten zu liefern, die dann von Menschen ausgewertet werden. Aber auch dieser Prozess kann immer noch Tage oder sogar länger dauern.

Dazu kommt erschwerend, dass die verschiedenen Einsatzorganisationen oft ihre eigenen, isolierten Datenkataloge haben. Somit ist es schwierig ein standardisiertes, gemeinsames Bild davon zu erstellen, welche Gebiete Hilfe benötigen. xView2 kann innerhalb von Minuten eine Karte des betroffenen Gebiets erstellen, was den Organisationen hilft, ihre Reaktionen zu koordinieren und Prioritäten zu setzen.

Diese Technik ist natürlich noch lange kein Allheilmittel für die Katastrophenhilfe. Es gibt mehrere große Herausforderungen für xView2, die derzeit einen Großteil von Guptas Forschungsarbeit beanspruchen.

Die erste und wichtigste Herausforderung ist die Abhängigkeit des Modells von Satellitenbildern, die nur tagsüber und wenn keine Wolkendecke vorhanden ist, klare Bilder liefern. Die ersten brauchbaren Bilder aus der Türkei wurden erst am 9. Februar aufgenommen, drei Tage nach dem ersten Beben. Außerdem gibt es viel weniger Satellitenbilder aus abgelegenen und wirtschaftlich weniger entwickelten Gebieten – zum Beispiel aus dem benachbarten Syrien. Um dies zu ändern, erforscht Gupta neue Bildgebungsverfahren wie etwa Synthetic Aperture Radar, das Bilder mit Mikrowellenimpulsen anstelle von Lichtwellen erzeugt.

Zweitens ist das xView2-Modell zwar bis zu 85 oder 90 Prozent genau bei der präzisen Bewertung von Schäden und Schweregrad, kann aber auch nicht wirklich Schäden an den Seiten von Gebäuden erkennen, da Satellitenbilder eine Luftperspektive haben.

Und drittens, sagt Ritwik Gupta, sei es schwierig, die Organisationen vor Ort zu überzeugen eine KI-Lösung zu nutzen und ihr zu vertrauen. "Viele Ersthelfer sind sehr traditionell", sagt er. "Wenn man ihnen von einer ausgefallenen KI erzählt, die noch nicht einmal auf dem Boden ist und Pixel aus einer Entfernung von etwa 190 Kilometern im Weltraum betrachtet, fällt es ihnen schwer, der Technologie zu vertrauen. Bis Tools wie xView2 zum Standard werden, muss also noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden.

xView2 unterstützt die verschiedenen Phasen der Katastrophenhilfe, von der sofortigen Kartierung der beschädigten Gebiete über die Bewertung der Standorte für sichere Notunterkünfte bis hin zur Planung des längerfristigen Wiederaufbaus. Abbhi hofft, dass xView2 bei der Weltbank in Zukunft "ein wichtiger Bestandteil unseres Arsenals an Schadensbewertungsinstrumenten sein wird".

Da der Code quelloffen und das Programm kostenlos ist, kann es jeder nutzen. Laut Gupta soll das auch so bleiben. "Ich hasse es, wenn Unternehmen auftauchen und sagen: Wir könnten das kommerzialisieren", sagt er. "Dies sollte ein öffentlicher Dienst sein, der zum Wohle aller betrieben wird." Gupta arbeitet an einer Webanwendung, mit der jeder Benutzer Bewertungen durchführen kann. Derzeit wenden sich Organisationen für die Analyse an die Forscher von xView2.

Anstatt die Rolle, die aufkommende Technologien bei großen Problemen spielen können, abzuschreiben oder überzubewerten, sollten sich Forscher auf die Arten von KI konzentrieren, die den größten humanitären Einfluss haben können, meint Gupta. "Wie können wir den Schwerpunkt der KI auf diese äußerst schwierigen Probleme verlagern?", fragt er. "Meiner Meinung nach sind diese viel schwieriger als zum Beispiel das Erzeugen neuer Texte oder Bilder."

(jle)