Schule digital: "Lehrkräfte mussten die Versäumnisse der Politik ausgleichen"

Seite 2: "Wir möchten, dass die Technik dem Menschen dient und nicht umgekehrt"

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Gab es häufiger Nachfragen zum Datenschutz von Lernplattformen und anderen digitalen Mitteln? Wie haben sich Lehrkräfte damit gefühlt, wenn sie Plattformen nutzen sollten, über die sie nicht viel wussten?

Dr. Hoffmann: Es gab zwei aufeinander folgende Reaktionen. Die erste war sehr vorsichtig: "Oh, da stehen die Server in den USA – das ist doch für unsere Daten unsicher? Lasst uns das nicht machen." Dann ging es aber darum, die Kinder, Jugendlichen und Eltern irgendwie zu erreichen. Und dann hat man mehr nach der Funktionalität geguckt. Also: Was funktioniert gut? Was stürzt nicht ständig ab und wo habe ich den besten technischen Support? Und da hat man den Datenschutz dann auch teilweise vergessen. Die Behörden haben das auch so laufen lassen, weil der Unterricht erst einmal irgendwie stattfinden sollte. Das Thema hat man dann weiter unter den Teppich gekehrt.

Es gab aber Vorkommnisse, die wieder mehr sensibilisiert haben, dass man nicht einfach schnell zu einer Lösung greift, sondern sich mehr mit der Ausgestaltung und Funktionalität der Lösungen beschäftigen muss. Ich meine hier beispielsweise den HPI-Hack oder auch die gesprengten Zoom-Calls, in denen dann plötzlich von den Eindringlingen Pornos gezeigt wurden. Auch reagierten Eltern und Datenschützer sensibilisiert und wollten etwa Lehrer verklagen, die den Datenschutz nicht ausreichend beachteten.

Das hat sehr große Wellen in der Lehrerschaft geschlagen. Für die war es so: Erst lässt man sie allein damit, unterstützt sie nicht, und wenn sie dann schauen, wie sie irgendwie klarkommen, wird ihnen noch ein Strafverfahren angedroht. Wo liegt denn die Verantwortung? Wo ist die Behörde?

Was haben die genaueren Nachfragen ergeben? Was beschäftigt Lehrkräfte und die GEW nun?

Das Thema Datenschutz bleibt sehr zwiespältig. Aus unserer Sicht ist man bei den tutoriellen Programmen, wie Learning Analytics, von Seiten der Politik aus sehr sorglos. Denn in solchen Programmen werden auch Metadaten wie zum Beispiel die Aufmerksamkeitsspanne oder die Bearbeitungszeit erfasst. Dabei ist noch gar nicht geklärt: Was passiert mit solchen Daten? Wer hat da Zugriff? Und wie schädlich sind solche Datenerhebungen über einen längeren Zeitraum für die Kinder? Metadaten, Datensouveränität und Persönlichkeitsrechte sind auch international ein sehr großes Thema.

Wir sagen ganz klar: Das muss sicher geklärt sein. Und ansonsten sind wir nicht dafür, dass solche Metadaten erhoben werden. Es muss ein Recht von Kindern geben, auch im Unterricht – auch im geistigen Sinne – mal offline sein zu können. Sie dürfen auch einmal nicht aufmerksam sein, denn sie können nicht sechs Stunden durchgehend aufmerksam sein – weder im Präsenzunterricht noch über eine Lernplattform.

Wir möchten, dass die Technik dem Menschen dient und nicht umgekehrt. Wir sehen aber einen Drang zur Optimierung und Effizienzsteigerung, der das einzelne Kind vergisst. Hier müssen wir – bei aller Begeisterung für Digitales – vorbeugen.

Dann würden Sie sich vermutlich auch dafür aussprechen, dass Bund und Länder eigene technische Lösungen entwickeln, damit die Datenhohheit besser gewahrt bleibt?

Dr. Hoffmann: Genau. Wir wollen öffentlich und demokratisch verantwortete Plattformen haben, auch wenn das ein hohes Ziel ist. Das Knowhow muss auch in Deutschland generiert werden – und jedes Tool, jede Maßnahme ist auf Kinderrechte, Persönlichkeitsrechte und den Datenschutz zu hinterfragen.

Mir ist es wichtig eine digitale Grundrechtecharta für den Schulbereich zu entwickeln. Es sollte auch ein Recht auf Offline-Sein von Kindern und Lehrkräften geben. Damit nicht die Digitalisierung diktiert wie wir lernen und lehren, sondern dass wir uns die Digitalisierung zunutze machen.

Als Lehrergewerkschaft sehen wir, dass das Pendel im politischen Diskurs momentan hin- und herwackelt, aber wissen noch nicht, in welche Richtung es letztendlich ausschlagen wird. Deshalb ist es wichtig, dass sich auch Lehrkräfte kritisch und kompetent in die Diskussion einbringen und sich nicht treiben lassen, wenn Behörden etwas durchboxen wollen. Denn mein Eindruck ist, dass die KMK sich eher von Stiftungen und der Digitalindustrie treiben lässt und nicht auf uns hört. Das halte ich auch für ein Demokratiedefizit.

Sie hatten vor einem Jahr schon angedeutet, dass Schulschließungen und Fernunterricht besonders die Kinder hart treffen könnten, die keine entsprechende Hardware besitzen, keinen Internetzugang haben oder die auch keine adäquaten Lernmöglichkeiten in ihren Familien vorfinden. Wie sehen hier ihre Rückmeldungen von Lehrkräften aus? Konnten Kinder im digital gestützten Distanzlernen gut erreicht werden? Haben sich ihre Befürchtungen bestätigt?

Dr. Hoffmann: Leider ja. Die Probleme, die wir vor einem Jahr angesprochen haben, haben sich noch verschärft. Es gab zwar einen Digitalpakt Plus, ausgestattet mit 500 Millionen Euro, um Endgeräte an bedürftige Familien und Kinder auszugeben, aber es ist immer noch so, dass ein Endgerät an sich noch keine Hilfe ist. Ein Endgerät muss ja zunächst eingerichtet werden. Da müssen die Apps und Tools drauf sein, die für die Teilhabe am Unterricht auch benötigt werden. Sie brauchen also eine Administration für die Hard- und Software.

Die Sachen einfach rauszugeben und zu hoffen, dass die richtigen Programme installiert und die Geräte wie gewünscht genutzt werden, ist das eine. Hinzu kommt aber noch die Frage, ob überhaupt ein Zugang zum Internet da ist – zum Beispiel auch im Notfall über entsprechende Mobilfunkverträge.

Dr. Hoffmann: Ja, genau. Und die Endgeräte sind ohnehin auch nicht flächendeckend bei den bedürftigen Kindern angekommen.

Ganz am Anfang der Pandemie war es zum Beispiel so, dass Hartz4-Empfänger für ihre Kinder Laptops beantragt haben und daraufhin die Antwort bekamen: "Sie haben ja jetzt mit einem Smartphone die Anfrage gestellt. Dann heißt das, dass Sie ein Smartphone in der Familie haben." Und dadurch haben dann zum Teil vier Kinder mit den Eltern versucht, über ein Smartphone den Fernunterricht aufrecht zu erhalten. Das sind schon massive Benachteiligungen.

An der wohnlichen Situation der Kinder konnte auch nichts geändert werden. Das heißt: Wenn Kinder keinen Arbeitsplatz und keine Ruhe hatten, dann hatten sie das oft in der ganzen Zeit der Pandemie nicht. Auch deshalb wurde dann gesagt: Na gut, dann müssen wir jetzt den Präsenzunterricht auf Teufel komm raus aufrecht erhalten – wegen des Bildungsrechts. Waren die Inzidenzwerte zu hoch, hat man einfach die Präsenzpflicht ausgesetzt.

Die Idee war, dass dadurch Kinder in die Schule kommen, die zuhause keine guten Lernchancen haben und dass die, die einen guten Distanzunterricht schaffen können, nicht in der Schule erscheinen. Gelaufen ist es aber andersherum. Kinder aus benachteiligten Familien kamen nicht. Es kamen Kinder aus Familien der Mittelschicht mit zwei berufstätigen Eltern, die auch eigene Zimmer haben und unterstützt werden können. In Familien mit Kindern, die massive Lernprobleme haben, wurde auf den Schulbesuch dagegen verzichtet. Diese Kinder sind verlorengegangen.

Das Festhalten an der Präsenzpflicht hat also gar nichts zur Bildungsgerechtigkeit beigetragen. Dafür hätte man einen geregelten Wechselunterricht benötigt, mit einem verpflichtenden Kommen aller Kinder an bestimmten Tagen in der Woche. Damit man die Kinder sieht, sie kommen müssen und man auch eine Handhabe hat, dass sie wirklich kommen – und um dann auch mit ihnen zu erarbeiten, was sie zuhause schaffen können.

So hätte man dann auch feststellen und sagen können: "Du kommst in die Notbetreuung" – weil es zuhause nicht klappt. So hätte man das besser steuern können.

Das, was da die Behörden gemacht haben, war der Blick der Mittelschicht auf die Schule – die Vorstellung: Den Eltern ist bewusst, dass die Kinder am Küchentisch sitzen, der Fernseher 24 Stunden läuft, keine Hausaufgaben gemacht werden und das nicht gut sein kann. Der Glaube war da, dass diese Eltern so vernünftig wären und die Kinder in die Schule schicken würden.

Das mag in Einzelfällen mal so gewesen sein. Im Großen und Ganzen haben diese Maßnahmen der Kultusministerien das stärkere Auseinanderklaffen der Bildungsschere aber nicht aufgehalten.