Schule digital: "Lehrkräfte mussten die Versäumnisse der Politik ausgleichen"

Dr. Ilka Hoffmann von der GEW erzählt, wie Lehrkräfte das Pandemie-Schuljahr 2020/2021 erleben. Rückstände gibt es noch, weitere Vorausplanung wird gewünscht.

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(Bild: Kate Kultsevych/Shutterstock.com)

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Inhaltsverzeichnis

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vertritt rund 280.000 Menschen, die in pädagogischen und wissenschaftlichen Berufen arbeiten. Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie werden diese besonders gefordert, da sie in Berufen tätig sind, die unsere Bildungslandschaft am Leben halten und die auch genau dafür viel mit anderen Menschen interagieren und sich um diese kümmern. Dr. Ilka Hoffmann von der GEW ist Leiterin des Vorstandsbereichs Schule im Hauptvorstand der Gewerkschaft. Sie kann besonders von den Gegebenheiten in Schulen berichten und die Sicht von Lehrerinnen und Lehrern vertreten.

Frau Dr. Hoffmann, wir haben zuletzt vor einem Jahr darüber gesprochen, ob in Schulen digital unterstützter Fernunterricht möglich wäre, falls aufgrund der Coronavirus-Pandemie Schulen schließen müssten – was dann ja tatsächlich auch geschehen ist und immer noch für viele Kinder, Jugendliche und Lehrkräfte Realität ist.

Die GEW hat vor einem Jahr auf viele Hindernisse für einen gelingenden Fernunterricht hingewiesen, unter anderem, dass es zum damaligen Zeitpunkt kein Konzept für digital unterstützten Unterricht gab. Was hat sich in den letzten 12 Monaten verändert?

Dr. Ilka Hoffmann: Es ist so, dass man jetzt genau gesehen hat, wo die Probleme liegen. Es gibt Schulen, die tatsächlich kein medienpädagogisches Konzept hatten. Es gab Kommunen, die nicht dafür gesorgt haben, dass Schulen gut ausgestattet sind. Und man hat auch gesehen, dass es auch mangelnde Kompetenzen bei den Lehrkräften gab.

Dr. Ilka Hoffmann ist Leiterin des Vorstandsbereichs Schule im Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

Geändert hat sich, dass sich Kolleginnen und Kollegen in relativ kurzer Zeit viele Kompetenzen angeeignet haben. Wenn man heute mit Lehrkräften aus verschiedenen Schulformen spricht, dann haben diese jetzt ein Vokabular drauf, welches ihnen vor einem Jahr noch nicht so leicht über die Lippen gekommen wäre. Und die Kolleginnen und Kollegen können auch abwägen, welche Tools nützlich sind oder wie man vorgehen kann.

Sie haben im Turbo-Tempo Kompetenzen und Konzepte entwickelt.

Wie sah denn die Unterstützung durch Bund, Länder und Kommunen aus? Konnten zum Beispiel mehr Mittel aus dem Digitalpakt abgerufen werden?

Dr. Hoffmann: Ja, der Abruf hat zugenommen, aber es gibt immer noch keinen Grund zum Jubeln. Die Abrufung der Mittel aus dem Digitalpakt geht insgesamt noch langsam. Gründe dafür sind vor allem in den bürokratischen Hürden zu suchen. Das Zusammenspiel von Bund, Ländern, Kommunen und Schulen – also diesen vier Ebenen – hat nicht überall gut geklappt.

In einigen Gebieten, zum Beispiel im östlichen Mecklenburg-Vorpommern oder Teilen von Brandenburg, also in ärmeren Gebieten im ländlichen Raum, fehlt der Breitbandausbau. Dort gibt es keine gute Internetversorgung und dann nützt dort auch eine Lernplattform nichts. Beim Netzausbau hinken wir in Deutschland hinterher.

Da, wo das Internet funktioniert, gab es aber zum Teil auch das Problem, dass die Lernplattformen dem Ansturm nicht standhalten konnten, wenn sich viele Schülerinnen und Schüler angemeldet haben.

Haben Sie als GEW den Eindruck, dass in diesem Bereich auf Länder- und auf Bundesebene schnell nachgearbeitet wird?

Dr. Hoffmann: Ja, alle versuchen da tatsächlich nachzuarbeiten, aber so schnell geht das nicht, weil wir viel aufzuholen haben.

Blickt man zum Beispiel zehn Jahre zurück, sind Deutschland und Dänemark ungefähr auf dem gleichen Stand was digitale Bildungsinfrastruktur anbelangt. Sie sind also ungefähr gleich gestartet, aber nun ist Dänemark sehr viel weiter als wir.

Es ist natürlich auch ein kleineres Land, aber bei uns hängt vieles daran, dass man die Verantwortung hin und her schiebt. Beispielsweise sagt der Bund: Bildungspolitik ist Ländersache. Die Länder sagen dann aber: Für die Ausstattung der Schulen sind wir nicht zuständig, das sind die Kommunen. Und die Kommunen sagen: Solange wir von den Schulen kein Konzept vorliegen haben, können wir nichts beantragen. Und so schiebt einer den Schwarzen Peter den anderen zu und das ergibt ungeheuerliche zeitliche Verluste.

Besser wäre, wenn man sich an einen Tisch setzen würde, um zu fragen: Wie können wir diese Prozesse verschlanken und Schulen auch kurzfristig unterstützen? Das ist nicht passiert. Und deshalb haben wir so einen großen Nachholbedarf.

Sie sagen also unter anderem, dass es ein Nadelöhr ist, dass die Schulen ihre Konzepte selber schreiben müssen, damit Kommunen überhaupt Mittel beantragen können. Fordert die GEW denn Beispielkonzepte von Bund und Ländern, die Schulen adaptieren könnten, damit Schulen nicht auf einzelne engagierte Lehrkräfte hoffen oder warten müssen, die ein Konzept verfassen können?

Dr. Hoffmann: Wir haben ein Bundesforum "Bildung in der Digitalen Welt" aufgelegt – da untersuchen wir die Prozesse, die für die Ausstattung der Schulen ablaufen. Es hat sich teilweise gezeigt, dass Lehrkräfte kaum informiert waren, wie der Digitalpakt umgesetzt werden soll.

Zudem läuft momentan eine Studie, mit der wir herausfinden wollen, wie der Mittelabruf funktioniert – wie überhaupt die Steuerung des Digitalpakts über die verschiedenen Stufen funktioniert bis Gelder in der Schule angekommen. Wo sind die Reibungsverluste? Das wollen wir uns genauer angucken und die Politik auf Fehler aufmerksam machen.

Und in unserem Bundesforum tauschen sich Kolleginnen und Kollegen aus, worauf man bei Beantragungen achten muss. Was sind die wichtigsten Punkte?

Wir stehen da noch am Anfang, da das ganze Feld sehr undurchsichtig ist. Längerfristig wollen wir hier aber auch einen pädagogischen Austausch etablieren, um zu erörtern, welche Tools überhaupt sinnvoll in den Schulen eingesetzt werden können. Also – was ist vielleicht einfach nur eine Idee der Digitalindustrie, nützt uns im Schulalltag aber nichts? Nicht alles was digital ist, ist modern und gut.

Sie hatten auch schon vor einem Jahr darüber gesprochen, dass es an Methodik und entsprechenden Weiterbildungen für Lehrkräfte mangelt. Sehen Sie in diesem Bereich Fortschritte? Und weiß man jetzt genauer, welche Hard- und Software sinnvoll in Schulen eingesetzt werden kann und wie Lehrkräfte damit gewinnbringend umgehen können?

Dr. Hoffmann: Die Schulen haben da Fortschritte gemacht. Die Kolleginnen und Kollegen haben Konzepte entwickelt. Die Politik lässt sich allerdings von der Digitalindustrie treiben – wie z.B. mit Learning Analytics. Es werden fertige Tools angeboten und aus Sicht einiger Politikerinnen und Politiker können diese 1 zu 1 in die Schulen gespült werden und dann braucht man sich nicht mehr um die Professionsentwicklung von Lehrkräften zu kümmern. Das übernähme dann die Digitalisierung. Der Weg in der Realität ist aber sehr viel länger.

Schulen arbeiten sehr unterschiedlich. Es muss geschaut werden: Was braucht die jeweilige Schule? Dafür gibt es kein Einheitsrezept. Um den unterschiedlichen Entwicklungen gerecht zu werden, braucht es viel mehr Möglichkeiten schulinterner Fortbildungen.

Wie sollte besser vorgegangen werden?

Dr. Hoffmann: Also: Es gibt zum einen übergestülpte Rezepte aus der Digitalindustrie – die übernehmen auch einige, weil sie sonst nichts haben. Und zum anderen gibt es die Selbstfortbildung oder gegenseitige Fortbildung der Lehrkräfte, die ich als erfolgsversprechender einstufe. Das heißt: Die Lehrkräfte haben sich selber schlau gemacht, miteinander oder alleine. Und da bräuchte es durch die Landesinstitute mehr Unterstützung.

Allerdings hat man sich in dieser Hinsicht nun auch auf den Weg gemacht. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat beschlossen, Kompetenzzentren zur Bildung in der digitalen Welt zu gründen. Diese sollen auch eine engere Zusammenarbeit mit den Universitäten ermöglichen.

Das verlagert viel Weiterbildungs- und Konzept-Arbeit an die Lehrkräfte. Ist denn die Arbeitsbelastung für Lehrkräfte gestiegen?

Dr. Hoffmann: Die ist tatsächlich – natürlich auch wegen der Digitalisierung – gestiegen. Vor allem aber dadurch, dass man in der Pandemie dreigleisig fahren musste. Es gab durchgängig eine Notbetreuung, und es gab sowohl Kinder im Präsenzunterricht als auch zum Teil im Fernunterricht Diese drei Säulen mussten gleichzeitig bedient werden und dann unter den Bedingungen eines erheblichen Lehrkräftemangels.

Auch hier erheben wir wieder Daten für zwei Studien. Die eine beschäftigt sich mit der Zunahme der Arbeitszeit unter den Digitalisierungsprozessen. Die andere unterstützen wir mit unseren Mitgliedern. Sie wird am "Institut für Lehrergesundheit" in Mainz durchgeführt und beschäftigt sich mit der generellen Belastung in der Pandemie. Sie betrifft den Arbeits- und Gesundheitsschutz und fragt wie stark die Kolleginnen und Kollegen psychisch belastet wurden. Die Studien sollen im Sommer fertig sein.

Subjektiv haben wir zurückgemeldet bekommen, dass viele Lehrkräfte mit Ängsten und Verunsicherungen zu kämpfen hatten. Sie mussten mit zum Teil chaotischen Vorgaben, viel Verantwortung, wenig Rückendeckung und dem Fehlen einer digitalen Infrastruktur zurechtkommen. Lehrkräfte mussten hier die Versäumnisse der Politik ausgleichen.