Tödliches Gehirn-Backup

Seite 2: Auf dem Weg zum Transhumanismus

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Im Februar erhielten sie den Körper einer älteren Frau und begannen nur zweieinhalb Stunden nach ihrem Tod, ihr Gehirn zu konservieren. Es war das erste Mal, dass das Verfahren an einem menschlichen Denkapparat ausprobiert wurde. Es trägt den Namen Aldehyd-stabilisierte Kryopreservation.

Fineas Lupeiu, Gründer von Aeternitas, einer Firma, die es Menschen erlaubt, ihren Körper für die Wissenschaft zu spenden, bestätigte, dass er Nectome als Kunden hat. Alter und Todesursache der Frau wollte er ebenso wenig nennen wie den Preis für die Leiche.

Die Konservierungsprozedur dauerte rund sechs Stunden und wurde in einer Leichenhalle durchgeführt. "Man kann das, was wir tun, mit einer ausgefallenen Form der Einbalsamierung vergleichen, bei dem nicht nur die äußeren Details des Körpers sondern auch die inneren erhalten werden", so McIntyre. Das Gehirn der Frau sei "eines der am besten erhaltenen aller Zeiten", auch wenn es dadurch, dass sie vor der Konservierung bereits mehrere Stunden tot war, zu Beschädigungen kam. Für die Ewigkeit gelagert werden soll es aber nicht, stattdessen wird das Gehirn in papierdünne Schichten zerlegt, um es dann mit einem Elektronenmikroskop zu untersuchen.

McIntyre meint, dass der Versuch ein Testlauf dafür war, wie er Konservierungsdienst von Nectome später einmal aussehen könnte. Die Firma versucht nun als nächsten Schritt den Test am lebenden Objekt – und ist dabei, eine Person zu finden, die aufgrund einer tödlichen Erkrankung Sterbehilfe haben möchte.

Hayworth will unbedingt vermeiden, dass Nectome seinen Dienst anbietet, bevor die Firma ihren Prozess wissenschaftlich publiziert hat. Nur dann könne die Gemeinschaft der Mediziner und Ethiker das Verfahren wirklich durchdiskutieren.

"Wenn Sie so sind wie ich und glauben, dass ein Hochladen des Geistes in einen Computer eines Tages passieren wird, ist das kein besonders kontroverses Verfahren", sagt er. "Es könnte aber so wirken, als würde die Firma versuchen, Leute zum Selbstmord zu verführen, um ihr Gehirn zu erhalten." Entsprechend bewegten sich McIntyre und Co. auf sehr schmalem Grad mit ihrer Warteliste. Womöglich hätten sie die Grenze bereits überschritten.

Einige Forscher sagen, dass Konservierung und Reanimierung eines Gehirns ein grundsätzlich betrügerisches Unternehmen seien. 2015 schrieb Michael Hendricks, Neurowissenschaftler an der McGill University in Kanada, bei Technology Review, die Transhumanisten weckten eine "erbärmlich falsche Hoffnung" bei ihrer Kundschaft. Die Wiedererweckung werde technisch wohl niemals möglich sein.

Nachdem er sich die Website von Nectome angesehen hatte, meinte er: "Spätere Generationen mit solchen Gehirnbanken zu belasten, ist so arrogant, dass es fast komisch ist. Hinterlassen wir Ihnen nicht schon genügend Probleme?" Er hoffe, dass die Menschen der Zukunft erkennen, dass im 21. Jahrhundert "die reichsten und bequemsten aller Zeiten" ihr Geld und ihre Ressourcen dafür verwendet hätten, auf Kosten ihrer Nachkommen ewig zu leben. "Das ist doch ein Witz, oder? Die sind wie Bösewichte aus dem Comic."

Nectome hat allerdings schon leidlich viel Geld für seine Dienstleistung eingeworben. Eine Million Dollar floss an Investitionsmitteln bereits – inklusive der typischen 120.000 Dollar, die YC springen lässt, wenn es ein Unternehmen in seinen "schnellen Brüter für Start-ups" aufnimmt. 960.000 Dollar kamen wiederum als Forschungsmittel vom US-Nationalinstitut für geistige Gesundheit (NIMH), um ein Verfahren aufzubauen, mit dem komplette Gehirne bis auf Nanoebene konserviert werden können – inklusive passender bildgebender Verfahren. Kommerzielle Anwendungen werden in dem Proposal bereits vorhergesagt, allerdings nicht die, mit denen Nectome nun an die Öffentlichkeit tritt – stattdessen soll die Technik etwa für die Medikamentenforschung nützlich sein.

Ungefähr ein Drittel der NIMH-Gelder werden im MIT-Labor von Edward Boyden ausgegeben, einem bekannten Neurowissenschaftler. Boyden sagt, er wollte die Konservierungstechnik von McIntyre mit einem Verfahren kombinieren, das an seiner Hochschule erfunden wurde. Mit der sogenannten Expansionsmikroskopie lässt sich Hirngewebe auf das zehn- bis zwanzigfache seiner Größe "aufblasen", was verschiedene Messungen erleichtert.

Auf die Frage, was er vom Gehirn-Backup als Dienstleistung hält, meinte er, solange Nectome klipp und klar sage, was sie (wissenschaftlich) wüssten und was nicht, sei die Bewahrung der Informationen im Gehirn eine "sehr nützliche Sache".

Es gibt jedoch viele Unbekannte in dieser Rechnung. So weiß noch niemand, was das Bewusstsein überhaupt ist, was wiederum eine irgendwann mögliche Simulation schwer nachvollziehbar macht. Zudem ist unklar, welche Details der Gehirnstruktur und Molekularebene wirklich erhalten bleiben müssen, um eine Persönlichkeit oder auch nur eine Erinnerung zu bewahren. Sind es nur die Synapsen oder jedes vergängliche Molekül in unserem Denkapparat? "Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir letztendlich Daten", meint Boyden.

Nectome beschäftigt sich seit Wochen und Monaten mit dem perfekten Pitch, der während der berühmten Demo Days von Y Combinator in nur zwei Minuten vorgetragen werden soll. Dann werden einige der prominentesten Geldgeber der Welt im Raum sitzen. Das Team wollte nicht unbedingt das Gehirn der älteren Frau zeigen, das man kürzlich konserviert hatte – es könnte verstörend sein. Auch wurde der Slogan nachträglich geändert. Aus "Wir archivieren Ihr Gehirn" wurde "Dem Ziel verpflichtet, Ihr Gehirn zu archivieren". Letzteres verspricht dann nicht mehr ganz so viel.

McIntyre sieht seine Firma in der Tradition sogenannter Hard-Science-Start-ups, die an schweren wissenschaftlichen Problemen arbeiten – etwa an einem funktionierenden Quantencomputer. "Diese Firmen können heute auch nichts verkaufen, obwohl es viel Interesse an Technik gibt, die revolutionär wäre, solle sie umsetzbar sein." Er glaube, dass die Gehirnkonservierung "ein großartiges kommerzielles Potenzial" habe.

Einer speziellen Start-up-Maxime ist er ebenfalls verpflichtet: Dass Entrepreneure ein Produkt schaffen sollten, dass sie selbst verwenden wollen. Mit anderen Worten: McIntyre sieht gute Gründe dafür, Kopien seiner selbst irgendwo zu speichern – und auch die Kopien anderer Leute. "Es gibt da eine große philosophische Debatte, aber für mich ist eine Simulation nah genug, dass sie sich lohnt." Einen "viel größeren humanitären Aspekt" sieht er auch. "Wenn heute eine Generation von Menschen stirbt, verlieren wir all ihre kollektive Weisheit. Wissen kann man an die nächste Generation übertragen, doch bei Weisheit ist das schwerer, weil man durch sie hindurch muss. Deine Kinder lernen aus den gleichen Fehlern, die Du selbst gemacht hat." Das sei für eine Weile genug gewesen, aber mit jeder neuen Generation werde der Mensch mächtiger. "Das reine immense Potenzial von dem, was wir tun, wächst, aber die Weisheit nicht."

(bsc)