Ukraine: Ein Jahr Atomkraft im Krieg

Mit der Ukraine wurde erstmals ein Land angegriffen, in dem AKW betrieben werden. Einen nuklearen Unfall gab es noch nicht, aber das Risiko besteht weiter.

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Atomkraftwerk Südukraine südlich der Stadt Juschnoukrajinsk,

(Bild: SNRIU)

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Am 24. Februar 2022, vor fast einem Jahr, begann Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Damit begann nicht nur der erste Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Erstmals hat ein Land ein anderes überfallen, in dem Atomkraftwerke stehen, die durch Kampfhandlungen beschädigt werden könnten.

Die Angst vor den Auswirkungen eines gravierenden Zwischenfalls in einem Atomkraftwerk durch kriegerische Handlungen sei neu, betonte vor Kurzem Inge Paulini, Präsidentin des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS). Inzwischen sei diese Gefahr zwar wieder in den Hintergrund des öffentlichen Bewusstseins geraten. Das stark erhöhte Risiko eines nuklearen Unfalls mit erheblichen Folgen bestehe jedoch fort, solange der Krieg dauere. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace fand andere Wörter zur Lage: "Dieser Krieg wird in einem Land geführt, das über mehrere Atomreaktoren und Tausende Tonnen hochradioaktiver abgebrannter Brennelemente verfügt. Die dadurch verursachten Gefahren sind enorm."

In der Ukraine waren im Dezember 2021 von den insgesamt 15 Reaktorblöcken 14 in Betrieb, sie produzierten 300 Millionen kWh Strom pro Tag, mehr als die Hälfte der des verfügbaren Stroms. Dazu kommt als weiterer kerntechnischer Großstandort das seit dem Jahr 2000 stillgelegte Atomkraftwerk Tschernobyl im Nordwesten der Ukraine, das russische Truppen kurz nach Beginn der Invasion besetzten. Sie wirbelten dort mit schwerem Gerät radioaktiven Staub auf, der sich durch den Fallout nach der Kernschmelze und Explosion in Block 4 des dortigen Atomkraftwerks im April 1986 abgesetzt hatte. Das führte zu einer Ortsdosisleistung von maximal 93 Mikrosievert/Stunde gegenüber den 3 zuvor. Die erhöhte Strahlungsbelastung blieb lokal begrenzt.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zeigte sich besorgt, da sich auf dem AKW-Gelände einige Lager mit radioaktiven Stoffen befinden. Befürchtet wurde auch, dass das Schutzdach über der Ruine des Blocks 4 durch Kampfhandlungen beschädigt werden könnte. Das blieb aus, beschädigt wurden in Tschernobyl aber Messeinrichtungen, durch die längere Zeit eine Online-Überwachung nicht möglich war. Auch wurden Computersysteme und Laboratorien beschädigt.

Durch die Kampfhandlungen wurde zudem die Stromanbindung der Anlage an das Landesnetz teilweise über mehrere Tage unterbrochen. Notstromdiesel hätten aber einspringen können und auch wenn alle Dieselaggregate ausfallen würden, wäre wohl nicht Radioaktivität schnell in größerem Maße freigesetzt worden, erläutert die deutsche Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). Das nukleare Inventar zerfalle seit mindestens 20 Jahren, in Tschernobyl fehle das Isotop Jod-131, das bei einem Reaktorunfall wesentlich zur Strahlenbelastung beitrage.

Während der Besatzung war das in Tschernobyl stationierte Personal besonderen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt, es musste unter russischer Befehlsgewalt arbeiten. Schichtwechsel konnten über mehrere Wochen nicht stattfinden, da die Anbindung zum Wohnort Slawutitsch der meisten Mitarbeiter zerstört wurde. Sie führt streckenweise über belarussisches Gebiet und kreuzte mehrfach die Frontlinie. Die Lage besserte sich im April 2022, als sich die Besatzer aus der Sperrzone zurückzogen.